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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Ich wußte ja, daß es so käme, wenn ich den Suldenhof besuchte! – – Er wirbt wieder um mich. – Und, Onkel, ich fange an zu überlegen – nein, ich überlege nicht – ich kämpfe. Ich würde den alten Vater so gern glücklich sehen – Onkel, Du würdest mir einen großen Dienst erweisen, wenn Du die Reise unternehmen wolltest – ich würde mich so gern mit Dir beraten! – Ich bringe die Schlacht meiner Gedanken nicht fertig. – Aber ich bitte, rasch, Onkel; ich fürchte, mit dem alten Gruber geht’s zu Ende.“

Und der Pfarrer reist nach dem Suldenhof.

Zum schwersten, was er je erlebt hat, gehört der Abendgang mit seiner Nichte im Schein des Ortlergebirgs.

„Sigismund weiß alles,“ berichtet ihm Cilgia auf diesem Gange, „er weiß, daß es eine matte, auf die Achtung für ihn und seine Familie gegründete Liebe ist, die erst wachsen und stark werden muß. Gott, wenn mir nur meine seligen Eltern ein Zeichen geben würden, was ich thun soll! Ich möchte den alten Lorenz nicht dahinfahren lassen ohne Trost und kann doch fast die Verantwortung nicht tragen, das ,Ja‘ zu sprechen. – Onkel, soll ich in die weite Welt?“

Erschütternd ringt Cilgia.

„Alles thun sie mir zulieb!“ stößt sie hervor. „Da ich nicht gern im Tirol bin, so will sich Sigismund in Puschlav niederlassen und dort eine Säumerei einrichten. Der alte Lorenz ist einverstanden.“

Der Pfarrer ist ratlos. – Der junge Gruber mit seinem klaren, trockenen Wesen gefällt ihm besser als je.

Aber Cilgia liebt den Vater – nicht den Sohn.

Und sonderbar– es ist, als ob der alte sieche Mann, der ein so arbeitsreiches Leben hinter sich hat, mit seinem Lebensflämmchen nur noch zuwarte, bis sie ihr „Ja“ spricht.

Mutteraugen bitten auch darum, und selbst der ältere Bruder Sigismunds, sonst ein protziger Mann, ist Cilgia gewogen.

Am andern Tag sagt sie: „Onkel, ich gehe jetzt allein ein bißchen in Wald und Flur.“

Und siehe da – mit stiller Fröhlichkeit kommt sie zurück. „Onkel,“ sagt sie, „ich habe gebetet wie noch nie. – Ich weiß meinen Weg – ich habe Frieden!“

Und dann setzt sie sich an das Bett des alten sterbenden Gruber.

Sie hat ihr Ja noch immer nicht gesprochen – blaß wie eine Märtyrerin sitzt sie da.

Der alte Gruber blickt sie, während er vom Geistlichen die Sakramente empfängt, mit einem unsäglichen Ausdruck der Bitte an. Sein Atem geht schwer.

Die heilige Handlung ist vollendet. Da schwankt sie auf den Sterbenden zu, nimmt seine kalte weiße Hand und kniet nieder. „Komm, Sigismund, knie mit mir und gieb mir die Hand – und Ihr, Vater, gebt uns den Segen!“

Da verklären sich die Züge des Waldtöters.

„Sigismund, halte sie in Ehren. – Cilgia, Herzenskind – also doch!“ – – –

Und die Stimme des Alten bricht sich in Röcheln und Schluchzen.

Der Geistliche tritt vor und hält die Monstranz über die Knieenden. „Sie hat in Mals so viel für die Armen gethan, daß ihr die Kirche den Segen nicht verweigern kann. Die Kirche segnet euch.“

Der alte Gruber schaut nur noch.

„Cilgia“ haucht der Sterbende mit unsäglich dankbarem Blick. Verlobung und Tod sind beisammen.

Und Sigismund Gruber weint wie ein Kind.


Monate sind seit diesem erschütternden Tage verflossen – es geht gegen den Herbst – aber der Pfarrer muß immer daran zurückdenken! Die Verlobung liegt ihm nicht recht. Doch übermorgen ist die Hochzeit Cilgias mit Sigismund Gruber.

Nur eine Beruhigung giebt es: sie selbst ist jetzt mit Festigkeit dabei – und eine Freude: er kann dann und wann zu ihr hinüberreiten – zu ihr, seinem Augapfel.

Uebermorgen ist die Hochzeit. „Ich bin doch dabei,“ hatte der alte Gruber gemeint, „wenn ihr mich schon nicht seht.“

Ja, denkt der Pfarrer, wenn der alte Lorenz noch ein paar Jahre das Leben gehabt hätte – Sigismund wird doch gefeit sein gegen die Gefahren, die an der Straße lauern. Und dabei denkt er nicht an die Lawinen.

Er nimmt die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis von der Wand.

Da klopft es.

Markus Paltram, der Büchsenmacher, kommt in schwarzem Anzug.

„Herr Pfarrer,“ sagt er ruhig, „mein Bub Märklein ist gestorben, könnte morgen die Beerdigung sein?“

„Setzt Euch, Paltram!“ Der Pfarrer brachte das trauliche „Markus“ nicht mehr über die Lippen. „Woran ist es gestorben? Ja, morgen, nur nicht übermorgen!“

„Gichter – es ist gut, daß es gestorben ist – es war ein schönes und liebes Kind – ich mag ihm den Frieden gönnen,“ sagt Markus dumpf.

„Wie kommt Ihr mir vor, Paltram?“

„Ich wünsche keine Nachkommenschaft,“ erwidert er finster. „Ihr werdet mit mir denken – was kann von Markus Paltram Gutes kommen?“

Da schlägt der Wind den Fensterladen zu.

„Es kommt ein Wetter,“ sagt der Pfarrer und befestigt den Laden.

Markus wirft einen Blick auf die ihm so wohlbekannten Bilder. Da würgt er es heraus: „Wie geht es Cilgia?“

„Ich schicke die Bilder, woher sie gekommen sind – über den Berninapaß. Ich trenne mich schwer von ihnen, aber sie liebt sie mehr als ich, sie werden ihr Hochzeitsgeschenk.“

„Ihr Hochzeitsgeschenk! – Sie heiratet Gruber?“

Und der Pfarrer nickt.

Markus Paltram taumelt auf: „Lebt wohl, Herr Pfarrer!“

Mit einem langen seltsamen Blick sieht ihm der Pfarrer nach – es ist ihm unheimlich zu Mut.

Paltram taumelt wie ein Trunkener heimwärts; zu Hause reißt er das Gewehr von der Wand.

„Was willst du?“ fragt seine Frau entsetzt.

„Auf die Jagd!“

„Vom Leichlein des Kindes hinweg – von unserm toten Märklein?“ jammert Pia.

„Ja, von unserm toten Märklein!“ donnert er ihr zu.

Es ist, als ob das Weiße seiner Augen leuchte – als sei er größer – ein andrer – nicht mehr Markus Paltram, der Schmied – sondern irgend einer aus alter Zeit.

Zitternd vor Entsetzen bleibt Pia; er aber geht – er geht das Berninathal empor. – Sieht er, wie sich das Wetter über das Gebirge wälzt – wie die fahlen Scheine um den Piz zucken und schweben? Gleich einer Mauer rückt die Finsternis heran – unter den obern schwarzen Wolken fegen die untern hin und her. Sie hängen wie Trauerfahnen ins Thal – in der Tiefe aber regt sich kein Lüftchen – es steht alles still – es ist eine Stimmung in der Natur, wie sie an jenem Tag sein wird, wo die Sonne zum letztenmal am Rande des Erdballs untergeht.

Markus Paltram steht am Morteratschgletscher – es ist Nacht.

„Cilgia!“ ruft er.

Da ist es, als ob der Bann der Natur sich löse. Ein Luftstrom streicht vom Piz über den Gletscher abwärts, und es wetterleuchtet über dem Eis dahin.

In den Felsen und an den Gletscherkanten harft der Wind. Er singt ein Lied, so weich wie die klagende Stimme jener Pontresinerin, die nach Aratsch rief; lange gehaltene Töne erklingen sanft und voll Wehmut wie die Musik des Gletschers, die um den Schlummer der Liebenden zittert.

Und die Stadt im Eise erglüht, die grauen nackten Felsen der Jsola Persa leuchten – sie werden dunkel, sie flammen wieder auf und die Lichter traumwandeln seltsam.

Schreitet nicht ein Paar engverschlungen durch die Gegend, so wie er und Cilgia gewandelt sind?

Aratsch und seine Geliebte!

Nein, sie werden schreiten – einmal am Ende der Welt einen kurzen, kurzen Tag.

Er aber wird nie mehr mit Cilgia wandeln – nie mehr – nie mehr!

Und der Name Paltram muß untergehen!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0746.jpg&oldid=- (Version vom 3.2.2023)