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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

ist er gewiß nicht so reich, wie er selber und andere mit ihm glauben.“

„Und wie geht es dir sonst, Kind?“ fragte der Pfarrer. „Ich meine, was macht dein Herz? Darüber sagst du mir ja kein Wort.“

„Ich fürchte nur die Nacht, die gräßliche Nacht,“ sagte Cilgia stockend, „am Tag giebt mir die Arbeit Frieden, und ich bete zum Himmel, daß er mir vor den Männern Ruhe schenkt. Aber vor sechs Wochen war Fortunatus Lorsa in aller Stille da und hat um meine Hand angehalten.“

„Und was hast du ihm für eine Antwort gegeben?“

„Der Schmerz hat mich fast übernommen. – ,Fortunatus,‘ habe ich ihm gesagt und ihn mit ,Du‘ angeredet, daß er merke, wie wert er mir ist, ,du verdienst ein besseres Los als ein halbes Herz – hätte ich noch ein ganzes, so gäbe ich es dir!‘ Geliebt werden und nicht wieder lieben können – auch das, Onkel, muß durchgekämpft sein! – Das weiß ich auch von Sigmund Gruber her.“

„Ich wäre wirklich gern zu den beiden Gruber gefahren,“ sagte nach einer Weile der Pfarrer, „ich denke an beide gern zurück, an den alten und den jungen.“

„Und ich,“ versetzte Cilgia, „ich ärgere mich, daß ich bei der Annahme der Stelle zu wenig überlegt habe, wie nahe ich damit den Gruber rücke. Wenn ich einen von ihnen sehe, und das geschieht ja jetzt oft, mache ich mir immer Vorwürfe, wie schlecht ich den jungen behandle und wie undankbar ich gegen den alten bin. Ich möchte übrigens den jungen ganz wohl leiden, wenn er mich nur nicht liebte. Seit ich selber so im thätigen Leben stehe, habe ich auch Sinn für die Säumerei und es gefällt mir, wie er mit den Knechten und Pferden umgeht. Er ist ein wenig derb, aber er ist nicht roh, er überanstrengt weder Mensch noch Tier. – Die Geschichte vom Gemsfallenstellen ist aber doch wahr,“ versetzte sie nach einigen Augenblicken; „denkt, Onkel, ich habe die große Unvorsichtigkeit begangen und ihn frei und frank gefragt, was an dem häßlichen Gerücht sei.“

„Warum Unvorsichtigkeit?“

„Er wurde blaß wie ein Leintuch – er stöhnte, nun wisse er, warum ich ihn nicht lieben könne – ob er denn ewig unter einer Thorheit leiden müsse, die er vor zehn Jahren als thörichter, verführter Junge begangen habe! – Es war so viel Leid in seinem Gesicht, daß er mich dauerte.“

Sie waren im freundlichen Münster angekommen; ein gemeinsames Mittagsessen noch, dann stiegen Onkel und Nichte wieder zu Pferd und reichten sich die Hände zum Abschied.

Da umflorten sich die schönen goldbraunen Augen Cilgias doch. „Ich habe,“ bekannte sie, „ein so gräßliches Heimweh nach dem Engadin – ich reite oft am Morgen früh zur Bündnergrenze und denke: dort über den Bergen liegt Pontresina; es ist schrecklich, daß ich es nicht mehr sehen darf!“

Ihre bebende Stimme brach ab. Mit einem raschen Ruck wandte sie das Pferd; sie ritt nach Mals zurück; der Pfarrer gegen Santa Maria und über den Ofenpaß nach Zernetz.

Die starke Seele, dachte er im Reiten; mit keinem Wort hat sie nach Markus Paltram gefragt.

Er unterhielt mit Cilgia einen regen Briefverkehr, die Säumer auf der Stilfserjochstraße nahmen ihre Briefe nach Tirano mit und gaben sie dort Säumern, die über die Berninahöhe zogen. Oft lag neben dem für den Pfarrer noch einer an Menja Melcher in St. Moritz und in diesem wieder ein Brief, den nur Menja allein sehen durfte.

Dieser Brief kam von Paris – kam von Herrn Konradin, der schon fast so lange in der lebensvollen französischen Hauptstadt weilte wie Cilgia im einsamen Mals.

Auch über sein junges Haupt war ein Donnerwetter gegangen. Irgendwie war der Landammann dem Thun und Treiben seines duckmäuserischen Sohnes auf die Spur gekommen: er hatte erfahren, daß dieser der Verfasser des vielgesungenen Liedes sei: „Mein Engadin, du Heiligtum“; er war in das verschwiegene Poetenkämmerchen gedrungen, hatte dann mit grimmigem Zorn die Verse seines Jüngsten der Landammin vorgelesen und, was schlimmer war, einen Brief mit Beleidigungen ins Haus geschickt, vor dessen Fenstern die Blumen Menjas blühten. Die Flamme der alten Zwietracht zwischen Melcher und ihm war neu aufgeschossen, und dem armen jungen Dichter flogen die bösen Worte um den Kopf: „Du Revolutionär – du überflüssiger Verseschmied – du Verräter an den Ueberlieferungen des Hauses!“

Herr Konradin war jetzt als angehender Kanzlist bei seinem Bruder in Paris, wo, meinte der Landammann, die blonde Melcher sich schon vergessen lassen werde.

Aber über Mals fanden Konradins Briefe den Weg nach St. Moritz, und ob sie auf dem weiten Umweg auch steinalt wurden, so streuten sie doch hellen Sonnenschein in ein kleines unglückliches Herz. Und dazu schrieb dann noch Cilgia: „Siebzehnjährige Menja. – Laß Deine Blumen noch ein paar Jährchen blühen. – Ich freue mich auf Euere Hochzeit!“ – Im Winter – es ist der zweite, seit sie von Pontresina fort ist – kommt ein Brief von Cilgia an den Onkel; eine Stelle besonders fesselt die Aufmerksamkeit des Pfarrers.

„Und denkt Euch,“ schreibt Cilgia, „was für eine sonderbare Bitte der alte Gruber an mich gerichtet hat. Eine junge reiche Bauerntochter in Reschen, eine muntere Neunzehnjährige, frisch wie aus dem Brunnen – ich kenne das Mädchen – hat sich in die blauen Augen des Sigismund verschaut, ihre Eltern wollen – der alte Gruber will – ich weiß ja nicht, wie das alles gefädelt worden ist – nur der Junge will nicht! Jetzt meint der Alte, da ich Sigismund ja doch nicht nehme, solle ich ihm den Kopf zurechtsetzen. Ich werde mich überwinden und ihm meine traurige Geschichte von Pontresina erzählen.

Ich bin über diese Wendung froh – a Porta hat mir bei seinem letzten Besuch so warm zugesprochen, ich sollte mich des jungen Grubers erbarmen – es liege gewiß ein Glück darauf. Ich begann ernsthaft zu überlegen. Denn ich höre jetzt mehr auf den Rat erfahrener Leute als in Pontresina.

Aber die Geschichte der Rescherin läßt mich kühl – das ist doch ein Zeichen, daß alles, was ich für ihn empfinde, nur freundschaftliche Achtung ist.

Die Verlobung Fortunatus Lorsas mit der Scanfserin ist mir näher gegangen – ich wünsche ihm tausend tausendmal aus vollem Herzen Glück!“

Der Pfarrer seufzte: Lorsa und Cilgia wären ein Paar nach seinem Herzen gewesen.

Ein ernster, sehr ernster Brief Cilgias mit der Aufschrift: „Dieses Schreiben drängt!“ traf im Frühling beim Pfarrer ein.

„Diesmal, Onkel, schreibe ich Dir vom Suldenhof. Wie ich dahin gekommen bin? Das ging wunderlich zu. – Ich lasse seit einigen Wochen wieder im Moor arbeiten; mein Baron ist im Salzburgischen, die Händler zahlen nichts, die Leute, denen wir schuldig sind, werden ungeduldig, der Bankier in Innsbruck rührt sich nicht, und ich sitze eines Samstags morgens auf der Schreibstube, klemme den Kopf zwischen die Fäuste und frage: Was soll ich thun, wenn am Abend die Arbeiter kommen, um ihren Vierzehntaglohn zu holen? Sagen: wir sind bankerott? – Da tritt der alte Gruber ein, ich gebe ihm auf seine Frage wegen Abfuhr von Torf für die Pfanne in Hall zerstreute Antwort. ‚Was ist Euch?‘ fragt er, ich bekenne ihm meine Verlegenheit, er sagt: ,So, sechshundert Gulden braucht’s, wenn der Baron nicht als zahlungsunfähig ausgeschrieen werden soll? – Da sind sie. Ich nehme die Gefahr auf mich, denn so schlimm steht’s mit Mont noch nicht.‘ So konnte ich meine Arbeiter und verschiedene drängende Schuldner bezahlen; vierzehn Tage später erhielt ich aus Salzburg das Geld, aber zugleich die Weisung des Barons, die Leute in dem Maß zu entlassen, als sie anderwärts Verdienst finden, und einer nach dem andern drückt mir jetzt die Hand. Der Zusammenbruch meines geliebten Moorunternehmens preßte mir die Thränen in die Augen, aber auch das von Gruber entlehnte Geld brannte mich. Es muß zurückbezahlt werden – sofort! Ich höre, daß der alte Lorenz bettlägerig oder doch ans Haus gefesselt ist – es liegt mir daran, die Summe wieder selbst in seine Hände zu legen. Ich besiege eines Morgens alle Bedenken und reite den weiten Weg nach dem Suldenhof. Die Leute, besonders der alte Lorenz, machen sich ein Fest aus meinem Besuch. Ich muß mir den weitläufigen, schönen Hof ansehen – man spricht viel, viel – nur nichts von der jungen Rescherin – ich verspäte mich am Abend – Sigismund Gruber reitet mit mir zur Begleitung durch die Nacht – und dann – – –

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