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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Kurt Groden warf von Zeit zu Zeit einen raschen, scharf forschenden Blick auf seine Begleiterin. Sie trug den Kopf tief gesenkt, wie unter einer unsichtbaren Last, und sah nicht ein einziges Mal nach ihm hin, der große Strohhut warf einen fremden Schatten über das verdüsterte Gesicht. Die weiche Lieblichkeit der Züge war so sonderbar verändert, als wenn eine erbarmungslose Hand darüber hinweg gewischt und den Zauber und Schmelz der Jugendfrische abgestreift hätte.

Sie sieht heute nicht gut aus, dachte Groden mit einem leisen Unbehagen und zog die Augenbrauen zusammen; es störte ihn mehr, als er selbst für möglich gehalten hätte.

In dem Augenblick sah Agnete zu ihm in die Höhe und gewahrte den finsteren verdrossenen Ausdruck ihres Begleiters.

„Sind Sie verstimmt?“ frug sie hastig und mit einer unverkennbaren Angst im Ton; „seien Sie es nicht! bitte! nur heute nicht! wer weiß, was morgen kommt! Heute sollen Sie noch lustig sein, so wie sonst immer!“

Er schwieg einen Augenblick, wie unschlüssig; sein Gesicht hatte sich nicht aufgehellt. „Sie sind ja selbst verstimmt!“ erwiderte er zögernd.

„Ja, eben darum! Wenn man im Schatten sitzt und friert, möchte man doppelt gern Sonnenschein um sich haben,“ gab sie traurig zurück.

Er blieb stehen und sah wie prüfend in ihr Gesicht.

„Und warum sind Sie im Schatten?“ frug er, „was hat sich seit heute mittag so Wichtiges verändert? Haben Sie schlechte Nachrichten mit der Post erhalten?“

Sie wurde noch einen Schein blässer, ein bitteres Lächeln spielte flüchtig um ihren Mund. Sie zuckte die Achseln. „Ja – und nein – wie man es auffassen will,“ antwortete sie in herbem Ton.

„Ich dachte es mir,“ erwiderte er und sprach dann nichts mehr: er köpfte nur im Weiterschreiten Gräser und Blätter mit seinem Stocke, als müßte er seiner Heftigkeit irgendwie Ausdruck schaffen.

Sie sah ihn, wie plötzlich aufgeweckt, an. „Ach, hat Sie das verstimmt?“ frug sie dann mit einem unsicheren, zweifelnden Ton. „Was dachten Sie denn?“

Er schwieg noch eine ganze Weile und sah in den Himmel, der jetzt mit bleigrauen, schweren Wolkenmassen sich versteckte und verpackte; ein sausender, pfeifender Wind strich pötzlich durch die Bäume und ließ sie tief aufstöhnen wie in ahnungsvoller Qual.

„Das Wetter kommt näher“, bemerkte Groden statt jeder anderen Antwort auf ihre Frage.

Sie blieb stehen. „Was dachten Sie denn? Bitte – was?“ wiederholte sie, und in ihrem Ton klang es durch wie eine versteckte, zitternde große Freude.

„Ich dachte – wenn ich es denn durchaus sagen soll – der Brief käme von einem Menschen, der augenscheinlich mehr Einfluß auf Ihre Stimmungen hat, als ich das von mir behaupten kann,“ sagte er kalt.

Sie ließ den Kopf sinken und erhob ihn nicht, während sie sprach.

„Da haben Sie recht!“ antwortete sie düster, „aber warum fragen Sie nicht weiter?“

„Ich habe keine Berechtigung dazu, mich in Ihr Vertrauen zu drängen,“ erwiderte er, immer in demselben kalten Ton.

Sie lächelte mit einem gequälten Ausdruck.

„Sie denken natürlich, es handle sich um eine Liebesgeschichte,“ sagte sie hart und verächtlich; „in den Augen der meisten Menschen kann ja ein Mädchen durch nichts glücklich oder unglücklich gemacht werden als durch eine Liebesgeschichte. Und wenn Sie wüßten, wie wenig Liebe – in jedem – jedem Sinn genommen, mit meiner Geschichte zu thun hat, mit meiner dummen, unerklärlichen, den meisten Menschen so absolut unverständlichen Geschichte – wie in dem ganzen öden Buch, das ich über mein Leben schreiben könnte, das Kapitel ,Liebe‘ gar nicht vorkommt! Nein, es handelt sich um ein viel nüchterneres Verhältnis – Sie würden arg enttäuscht werden, wenn Sie etwa einen Roman erwarten.“

Er sah plötzlich erheitert und froh aus, sein Gesicht hatte dann gleich etwas so seltsam Strahlendes, es warf einen Wiederschein auf die Menschen, die mit ihm zusammenkamen.

„Ich weiß nicht, was ich erwartete,“ sagte er, „ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt etwas erwartete; mich hat nur der Gedanke heute so namenlos ungeduldig gemacht, daß ein Brief, ein Blatt bekritzeltes Papier die Macht haben sollte, Sie so ganz zu verwandeln – so zu verwandeln, wie es einem Menschen in dieser ganzen Zeit unsers Zusammenlebens noch nicht gelungen ist.“

Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

„Glauben Sie?“ frug sie dann.

Sie gingen eine ganze Weile stumm nebeneinander her, ohne darauf zu achten, daß das Unwetter mit Pfeilgeschwindigkeit näher kam, daß eine plötzliche Dunkelheit hereinbrach, die mit der Tagesstunde nichts zu thun hatte, und daß in der graugelben Wolkenwand vor ihnen schon ein unaufhörliches Blitzen und Leuchten begann. Ganz in der Ferne ließ sich ein dumpfes Grollen hören, wie das Knurren eines gereizten Raubtieres, das nur den geeigneten Augenblick erwartet, um sich auf seine Beute zu stürzen.

Es lag etwas Gespanntes, finster Erwartungsvolles in der Luft – plötzlich lohte ein greller, verderblich schöner Blitz in ihrer nächsten Nähe nieder, ein krachender, majestätischer Donnerschlag folgte, und in Strömen goß der Gewitterregen über die beiden Wanderer herab und peitschte in langen Schnüren auf sie nieder. Der Sturm schrie ein wildes, gewaltiges Triumphlied durch den Wald, er brach Zweige und Aeste von den Bäumen, wirbelte sie umher und warf sie höhnend auf den Weg. „Ihr habt gegrünt – Ihr werdet nie mehr grünen!“ – Die nächsten Minuten waren von einem so betäubenden Rauschen, Prasseln und Dröhnen erfüllt, daß kein Raum für die kleinen Menschenstimmen blieb – mochten sie noch so Wichtiges zu sagen haben.

Die beiden sprachen auch nicht, nur einmal sagte Groden rasch und herrisch: „Fürchten Sie sich nicht!“ Und sie sah zu ihm auf und erwiderte atemlos: „Nein!“ – aber mit einer Welt von Vertrauen in dieser einen Silbe.

So kämpften sie sich ein paar hundert Schritt weiter durch das tobende Wetter, bis sie eine kleine, verfallene Jagdhütte vor sich sahen, deren Thür halb offen stand. Groden zog seine Begleiterin hinein, mehr, als sie ging; sie fühlte das schützende Dach über sich und atmete erleichtert auf. Er schob einen Heuhaufen zurecht, der noch an der Thüre lag, und legte seinen Mantel darüber.

„Ein primitives Sofa,“ sagte er halb lächelnd und wies mit der Hand darauf.

Sie ließ sich müde und erschöpft niedersinken, strich das regennasse Haar aus der Stirn und sah dankbar zu ihm auf, mit dem Ausdruck des verirrten Kindes im Märchen, das der Königssohn gefunden hat.

Das Wetter zog so rasch ab, wie es rasch gekommen war, der Donner wurde schon schwächer und schwächer. Der Regen ließ nach, es fing an zu tröpfeln, was rhythmisch klang – nun kam ein so wundervoller, frischer, herber Hauch mit den Regenwolken geschwommen, er brachte auf seinen Flügeln den Duft von allen erquickten Kräutern, von der Erde, die wieder lebt und ihre geheimnisvollen Kräfte in Millionen von Atomen durch die Luft streut – den Werdegeruch, der gegen das Vergehen stumm und leidenschaftlich Einspruch thut.

Die beiden Menschenkinder in dieser absoluten, weltvergessenen, weltfernen Einsamkeit sprachen zuerst kein Wort. Sie lebten mit der Natur auf, mit der sie vorhin verschmachtet waren.

Nach einer ganzen, langen Zeit wandte sich Groden zu seiner Begleiterin, eine bekämpfte Erregung lag auf seinem Gesicht.

„Wollen Sie mir jetzt sagen, was Sie heute so bekümmert hat?“ frug er in gepreßtem Ton.

Sie erhob einen Augenblick die Hände wie abwehrend und ließ sie dann schwer in den Schoß sinken.

„Nun haben Sie es wieder aufgeweckt,“ sagte sie halblaut „Aber es ist wohl besser, ich spreche es einmal aus, und nun, bitte, erwarten Sie keine Tragödie, keine heroischen Erlebnisse – erwarten Sie ein Nichts, ein Schemen, ein Schicksal, von dem die Menschen, wenn sie es kennten, sich mit Kopfschütteln abwenden würden, und dem sie mit Achselzucken gegenüberstehen, weil sie es nicht begreifen!“

(Schluß folgt.)     


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