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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Wir wollen heimgehen,“ sagte sie, „es ist bald Mittagszeit.“

Er entgegnete nichts, und sie gingen zusammen den Waldweg entlang, in dem glückseligen Schlendertritt, der ihnen durch so manche gemeinsame Wanderung zur Gewohnheit geworden war.

Die Sonne schien wie traumhaft durch die Blätter, sie zeichnete helle, wechselnde Flecken auf den Sandboden und in das kurze stämmige Moos, in dem unzählige Käfer, Würmer und Spinnen eilfertig und wichtigthuend durcheinander krochen.

Der kräftige, harzige Tannenduft strömte aus den geraden schlanken Stämmen, die lackierten, steifen Blättchen der Preiselbeersträucher glänzten und die festen roten Kügelchen der Preiselbeere glühten auf in der Herbstsonne.

„Wie lange wird man nun hier noch so beisammen sein?“ frug er plötzlich und unvermittelt.

Sie wurde ganz blaß und blieb stehen.

„Nicht davon sprechen!“ sagte sie mit bebender Stimme.

Er sah sie gedankenvoll an.

„Es kommt ja doch einmal!“ erwiderte er.

„Ja!“ sagte sie, „es kommt alles einmal, das Alter, der Tod, das Voneinandergehen; aber so lange es noch nicht da ist –“

Sie schüttelte den Kopf und preßte die Lippen zusammen, dann ging sie rasch weiter, daß er ihr kaum zu folgen vermochte.

„Aber muß es denn kommen?“ fragte er wie gegen seinen Willen.

„Was meinen Sie?“ gab sie fast unhörbar zurück.

„Das Voneinandergehen meine ich!“ sagte er ebenso leise.

Sie sah ihn verwirrt an, es kämpfte eine große Unsicherheit und eine plötzliche Seligkeit in ihr, keines sprach ein Wort.

Da schlug plötzlich die kleine Uhr der Dorfkirche scharf und klingend die Stunde. Er strich sich, wie aufatmend, das blonde Haar von der Stirn.

„Es ist schon sehr spät,“ sagte er, „wir müssen uns wohl beeilen, hinunter zu kommen.“

Sie sprachen kein Wort mehr und sahen sich nicht mehr an, bis sie vor der Pension angelangt waren.

Er hielt ihr mit ceremoniöser Höflichkeit die Thür offen und ließ sie vorübergehen; sie warf ihm einen scheuen Blick zu und verschwand im Hause, er sah ihr nach, wie sie so schlank und groß die dunkle Holztreppe hinaufging.

„Ich habe eigentlich schon mehr gesagt, als ich wollte,“ murmelte er etwas unzufrieden vor sich hin, „aber wenn ich es mir recht überlege, habe ich eigentlich gar nichts gesagt – das war ja nur eine ganz allgemeine Redensart.“

Er fehlte am Abendtisch.

„Herr von Groden ist auf den Anstand gegangen, der Rehbock tritt heute abend heraus,“ sagte der Oberkellner und nahm das leere Couvert neben Agnete fort. Es störte sie nicht, daß er nicht da war. Sie befand sich noch immer in dem Zustand verworrener Glückseligkeit, der sie den ganzen Tag wie ein taufunkelndes Spinngewebe eingeschlossen hatte. – Sie sagte sich die Worte „Muß man denn voneinander gehen?“ so oft vor, daß sie ihr von Zeit zu Zeit gar nicht wie Worte erschienen, die etwas bedeuteten, sondern wie ein sinnloser, leerer Klang, und dann jagte sie ihnen gleichsam nach, bis sie ihr wieder etwas zu sagen hatten.

In diesem Traumleben sah sie so schön aus, so blaß mit strahlenden Augen, daß alle Blicke sich an diesem Abend wieder und wieder nach ihr hinwandten.

Die alte Excellenz strich ihr über das Haar, als sie sich zum Gutenachtsagen über ihre Hand beugte.

„Sie sehen aus, als ob Sie der Waldfee begegnet wären, Kind,“ sagte sie lächelnd.

„Das bin ich vielleicht,“ erwiderte Agnete mit einem lieblichen Uebermut, der ihr um so reizender stand, als man ihn so gar nicht an ihr gewöhnt war.

„Nun, wir werden wohl etwas erleben,“ sagte die Konsistorialrätin zu ihrer unzertrennlichen Nachbarin, der Majorin, die wohlwollend zu der Bemerkung lächelte, „die Sache mit unserem Fräulein Nordeck und Herrn von Groden scheint mir nunmehr in Richtigkeit zu sein.“

Die Majorin sah etwas bedenklich aus. „Aber warum war er den ganzen Abend nicht da, liebe Frau Konsistorialrätin; das schien mir, offen gestanden, ein bißchen unheimlich.“

„Der Rehbock, beste Seele – der Rehbock! Man sieht, daß Ihr Herr Gemahl kein Jäger ist – über den Rehbock geht den Herren nichts!“

„Nun, mich sollte es freuen,“ bemerkte die Majorin, „und Vermögen ist ja auch beiderseits da!“

„Wissen Sie das gewiß?“ frug die Konsistorialrätin.

„Haben Sie sein Gepäck nicht gesehen, liebste Frau Konsistorialrätin? die gelbe Ledertasche und den Juchtenkoffer? Solche Kleinigkeiten reden lauter als Worte.“

„Na, und sie ist auch verwöhnt, das merkt man bei jedem Schritt; da ist es auch nötig, daß die äußeren Verhältnisse stimmen,“ schloß die Konsistorialrätin.

Und während so die Welt mit ihrem Rechnen und Wägen und Reden sich anschickte, den Blütenstaub unter die Lupe zu nehmen, stand Agnete in ihrer Stube und horchte auf das Sausen und Raunen der Herbstnacht – und sah auf den düstern Himmel, an dem hier und da ein blasser Stern auftauchte, beim Gedanken an das große nahe Glück so atemlos wie jemand, der in das Meer springen will, es so wundervoll findet und sich doch davor fürchtet. – „Aber es kommt – es kommt!“ sagte sie zuversichtlich vor sich hin, und ihre Augen strahlten.

Und die Sterne schwiegen geheimnisvoll.


Am nächsten Tage war die Gesellschaft, wie immer um diese Stunde, auf der Plattform versammelt, um den Nachmittagskaffee zu nehmen und gleichzeitig die Ankunft des Postboten zu erwarten, der in dem gleichmäßigen Verlauf des Tages hier die wichtigste und willkommenste Unterbrechung war.

Die Gruppen hatten sich heute etwas aus der gewohnten Ordnung verschoben. Groden, der sonst immer seinen Platz neben Agnete fand, war heute sichtlich verlegen und gezwungen, er vermied es, sie anzusehen oder anzureden.

Er umgab sich mit einer Phalanx von Herren, denen er seine gestrigen Jagderlebnisse erzählte. Sein lebhaftes Gesicht mit den feurigen Augen erzählte mit, er verstand es, scheinbar unabsichtlich, sich immer zum Mittelpunkt des Kreises zu machen, den er gerade unterhalten wollte.

Agnete saß auf der hölzernen Balustrade der Plattform, den Arm um einen der Stützpfeiler geschlungen, und sah stumm in die Weite, in den Himmel, an dem heute in der Tiefbläue sich ein paar weißgelbliche, drohende Wolken zusammenballten. Es zitterte alles fast sichtlich unter der schwülen Glut der ersten Nachmittagsstunde, die ihr ehernes Scepter über den müden Menschen schwang.

Die Stimmung war ohnehin heute gedrückter, als sie es sonst in dem kleinen Kreise zu sein pflegte. Man hatte soeben ein abreisendes Ehepaar zum Wagen geleitet, welches nur für kurze Zeit in der Pension war und durch sein finsteres, gleichgültiges Miteinanderleben, das nur durch einzelne heftig bittere Meinungsverschiedenheiten unterbrochen wurde, einen beklemmenden und traurigen Eindruck auf die übrige Gesellschaft hervorbrachte.

Man stand diesen beiden mit der Empfindung gegenüber, daß es Menschen seien, die hier in der Einsamkeit und Stille noch einen erneuten – vielleicht letzten – Versuch gewagt hatten, sich zu verstehen, sich einander innerlich zu nähern – und daß dieser Versuch wieder gescheitert war. Dies Paar, so eng verbunden, erschien sich und anderen wohl weiter getrennt als je, da sie so schweigsam und düster im offenen Wägelchen miteinander in die herrliche Natur hinein fuhren, die ihnen von ihrem köstlichen Herbstfrieden nichts zu verleihen vermochte.

Ein allgemeines, gedankenvolles Verstummen folgte dem Abschied und dem Verschwinden des Gefährtes, das eben dort um die Ecke der Fahrstraße bog.

„Wir reden so viel von Sklaverei, von Lohnsklaverei und Sklavenhandel und ziehen mit der ganzen Armatur unserer sittlichen Empörung dagegen zu Felde,“ sagte Groden, der dem Wagen noch immer nachblickte; „die traurigsten Sklaven sind doch die Menschen, die durch ein voreiliges Wort, durch ein unbesonnenes Hineintappen oder Hineinspringen in die Ehe sich selbst zeitlebens an die Kette legen oder daran gelegt werden. Ich kann darum keinen Polterabend, keine fröhlichen Hochzeiten mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0732.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)