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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

gewaschen und sich gekämmt hatte. Denn die Mutter sich waschen und sich kämmen sehen, war mein Morgengebet. Ich setzte mich auf einen Schemel, faltete die Hände, war ganz still und schaute meine Mutter an. Die Flut ihrer dunklen Haare, die ihr bis auf die Kniee reichten, umgab sie wie ein Mantel, und wenn der Kamm durch sie glitt und eine Spalte öffnete, so schimmerte daraus ein Frauenantlitz, daß ich meinte, es gäbe kein schöneres unter dem blauen Himmel, und ihre Augen waren so dunkel wie die Nacht zwischen den Waldstämmen. Es war ihre glückliche Stunde oder halbe Stunde, wenn sie sich kämmte, und sie nahm sich gern Zeit dazu. Ohne meiner Gegenwart zu gedenken, erhob sie dann ein Selbstgespräch, und durch den schwarzen, glänzenden Mantel flüsterten ihre Worte geheimnisreich zu dem kleinen Buben, der jedes auffing und bewahrte. Sie muß, ehe sie meinen Vater nahm, in tiefster Stille mit einem reichen Bauernsohn von Scanfs verlobt gewesen sein, der sie verließ. Denn ihre Lippen flossen über von Menschenverachtung, von harten Worten gegen den zu Scanfs, von scharfen Urteilen gegen die Nachbarsleute. Dann fuhr sie fort: ,Aber mein Märklein, mein Märklein ist ein kluger Bursch – er wird der erste zu Madulein – nein, er muß Landammann des Engadins werden – mehr‘ – – doch das kann ich nicht sagen, was sie weiter sprach! Und sie nahm mich mit einer Gewalt in die Arme, daß ich laut hätte aufschreien mögen, und zog mir mit einem langen Kuß den Atem aus der Seele.“

Mit keinem Wort unterbrach Cilgia die Beichte Paltrams.

Da fuhr er fort: „Vom Innersten meiner Mutter genährt, wuchs ich auf, ich war sie selbst, soweit ein Bube seine Mutter sein kann, ich liebte, was sie liebte, ich verachtete, was sie verachtete, und wagte alles, wenn ich ihres Beifalls gewiß war. Sie half mir gegen den Vater, sie half mir gegen das ganze Dorf, das ich mit meinen Streichen erschreckte.“

„Eins vor allem möchte ich wissen,“ sagte Cilgia. „Ist es wahr, daß du einmal einem verbrannten Mädchen die Schmerzen gestillt hast?“

Aller Sonnenschein war aus dem Gesicht Paltrams gewichen – er schwieg und seufzte.

„Es ist wahr,“ antwortete er nach einer Weile. „Ich entdeckte eine Kraft in mir, die sonst niemand im Thale besaß. Ich erschrak – ich freute mich, meine Mutter mit mir – und sie sagte mir Tollheiten ins Ohr, die ich nicht wiederholen mag. Ich sog das süße Gift mit Begierde ein – ich fragte nichts nach Gott und Teufel – ich sah nur jeden heimlich darauf an, ob er meinem Auge unterliegen würde; ich sperrte mich scheinbar, an die Betten der Kranken zu treten, aber ich hätte gewollt, das ganze Engadin wäre elend und ich könnte hintreten und sagen: ,Du darfst keine Schmerzen leiden‘, und es mit Händen und Augen zwingen.“

Cilgia seufzte. Beklommen schritt sie neben ihm.

„Ich wußte aber auch,“ fuhr er düster fort, „daß ich etwas that, was nicht sein sollte, denn jedesmal, wenn ich meine Kunst übte, fühlte ich mich nachher wie zerschlagen – und am elendesten, wenn sie versagte. Es war eine Kunst für Schwächlinge und arme Tröpfe; als ich mich auch an starke, willensfeste Männer wagte, unterlag ich und verwünschte die Gabe. Meine Mutter indessen berauschte sich daran, ihr zu Gefallen übte ich die geheimnisvolle Kraft.

,Jch ertrage diese Augen am Tisch nicht mehr,‘ sagte mein Vater.

‚Merkst du nicht, daß er heimliche Kräfte hat?‘ erwiderte meine Mutter.

Streitigkeiten mit meinem Vater trieben mich nach Frankreich. Ich wußte nicht, was ich von meiner Kunst halten solle, und habe sie in St. Etienne an den Gesellen noch manchmal aus Prahlerei geübt. Unser Atelier hatte aber einen regen Instrumentenverkehr mit Spital und Lazarett; meine von früher her große Teilnahme für Krankheitserscheinnngen erwachte, ich wurde mit meiner geschickten Hand der Lieblingsgehilfe des Professors Lagourdet.

Ihm offenbarte ich eines Tages meine geheime Kunst und zeigte sie ihm an Kranken. Schon meinte ich, ich führe ihn zu einer großen Entdeckung, er aber sagte: ‚Markus, die Kunst ist uralt; ob es der Wissenschaft gelingt, etwas Kluges daraus zu machen, ist unsicher! Sicher ist nur eins: es ist eine verbrecherische Handlung, sich des Willens eines andern so zu bemächtigen, daß er dem eigenen Willen dienstbar wird und die Gesetze der Natur, zu denen auch der Schmerz gehört, in Leib und Seele des andern aufhebt. Thue es nicht mehr, Markus, wirf dich nicht zusammen mit den Gauklern und Betrügern, die von den Chaldäern an bis zu den arznenden Schwindlerinnen in Paris die dunkle Gewalt des Willens mißbraucht haben. Denn die Natur rächt die Verbrechen, die an ihr begangen werden. Und es wäre für dich schade, mein Junge, wenn du eines Tages dein eigenes Opfer würdest! – Wahnsinn oder Verbrechen, das ist das Ende dieser Kunst.‘“

So erzählte Markus.

„Und an Pia hast du sie doch wieder geübt!“ versetzte Cilgia gepreßt und vorwurfsvoll. „Versuche sie nie an mir, Markus, sonst würde die Liebe zum Haß!“

Da fiel ein blasses Licht in die Nebel, durch die sie wanderten, zwischen rauchenden Wolken drang die Sonne herein, der lichte Schein der Berge und Spitzen, duftige Höhenbilder schwebten in abgerissenen Stücken phantasmagorisch durch das Grau.

Und plötzlich stand vor ihnen in Sonne das Naturbild des Morteratsch.

Cilgia aber, die über die Beichte des Geliebten ängstlich geworden war, blickte in ein glückliches Gesicht.

„Nein, Cilgia, glaube mir, wenn ich dir diese Dinge erzähle, so ist es, weil ich vor dir offen sein möchte wie ein Buch – weil ich dir Vertrauen mit Vertrauen vergelten – weil ich dich bitten möchte, daß du mich aus den Nebeln meiner Jugend an die Sonne führest! Ich möchte gut werden, Cilgia, wie du bist! Schau mir in die Augen, Cilgia ...“ und er nahm ihre beiden Hände und staunte begeistert in ihr schönes Gesicht. „Nein – nein! Deine Augen voll Tag und Licht sind stärker als ich – ich sage dir ja, es sind nur Schwächlinge, die schon einen kranken Keim in sich tragen, die dieser blöden Kunst erliegen, du aber bist stark, meine herrliche Cilgia! Du bist gesund – und du sollst mir deinen Willen geben – nicht ich dir den meinen! In deiner Liebe begrabe ich die unselige Kraft. – O, Cilgia, hilf mir – ich habe auf der weiten Welt niemand als dich!“

Die Erregung beider war so tief, daß sie die Schönheit der Landschaft nicht sahen, die sie umgab. Sie standen an jener Stelle, wo das Engadin sein schönstes Wasserspiel entfaltet. Zwischen dunklen Tannen und Arven hervor rauscht der Berninabach mit Wellen so klar wie Glas, zerteilt sie zwischen grün überwucherten Felsen und wirft die strudelnde Klarheit in schneeigen Strähnen und Bündeln in die trübe Eismilch des Baches, der vom ganz nahen Morteratschgletscher kommt.

Das Liebespaar schreitet über den schmalen Steg, in der Mitte aber hält Cilgia an und faßt die Hand des Geliebten.

„Siehst du das Wunder, Markus?“

Auf den blauen Schwaden des Nebels, in die sich der Doppelbach geheimnisvoll verliert, steht der Schatten des schwankenden Steges, und auf dem Schatten stehen ihre Schatten, um ihre Häupter aber schwebt eine einzige Glorie wie das Sonnenrad.

„Die Sonne – die Sonne – sie spannt uns in den gleichen Reif des Lichts!“ So jubelt Cilgia. „Und wie uns die Sonne eint, so wollen wir in ihrem Licht zusammenbleiben!“

Sie lehnte ihr Haupt an seine Schulter und er küßte ihre Stirn und sie litt es errötend.

Vor ihnen aber lag der Morteratschgletscher in der Pracht des milden Herbsttages und hinter ihm flammte schneeweiß der Piz Bernina in das tiefe Blau des Himmels. Ein überirdisches Licht fällt von seinen Schneewänden auf den Gletscher, der in einem fleckenlos reinen Halbkreis von Winterbergen wie ein Gebilde des Märchens ruht.

In mächtigen Burgen blauen Eises steigt er auf zur Jsola Persa, der verlornen Insel, und umspannt sie, und neben ihr baut sich eine wunderliche Stadt von Eis, mit Giebeln, Spitzen, Bogen und Brücken und gähnenden Gassen, und weißes und azurnes Licht traumwandelt durch das Schweigen der Zauberstadt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0714.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2023)