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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

die rätselhafte Erregung Anymehs, die sich bald in aufflammender Heftigkeit, bald in dumpfem Hinbrüten äußerte, die größte Besorgnis ihres Vaters. Da sie hartnäckig über die Ursache ihres Kummers schwieg, begann er schon zu fürchten, sein einst so helläugiges geistesklares Kind sei geistiger Umnachtung verfallen. Er begrüßte es daher fast wie eine Erlösung, als Anymeh eines Tages mit gefaßterem Wesen auf ihn zutrat und ihm die Bitte aussprach, mit ihm nach Kaschan zum Besuch der dortigen Verwandten zu reisen. Die Nachricht, daß der gestürzte Vezier nach Kaschan verbannt worden sei, war jetzt nach Kassim gedrungen. Es lag jedoch Ghulam fern, den Wunsch seiner Tochter in Zusammenhang mit dieser Nachricht zu bringen. Kannte er doch den Haß, in den Anymehs Liebe zu Mirza Thagi umgeschlagen war, hatte Anymeh doch gerade in den letzten Tagen nur zu offen gezeigt, daß ihr Herz sich Abdul Kerim zugewendet habe. Er ließ Pferde satteln, Maultiere bepacken und reiste mit Anymeh nach Kaschan.

Aber schon auf der Reise verfiel sie wieder in die Ruhelosigkeit, unter der sie zu Hause gelitten hatte. Immer trieb sie zur Eile, und als die guten alten Leute aus ihres Vaters Verwandtschaft, der Teppichweber Abdallah und seine Frau Fatme, ihre Gäste auf der Schwelle ihres Hauses empfingen, erschraken sie über das verstörte Aussehen des sonst so holden Mädchens. Sie thaten alles, was nach ihrer Meinung dazu beitragen konnte, Anymeh zu zerstreuen und zu erheitern. Ihrem Verlangen, sie in der Stadt spazieren zu führen, that Abdallah gern Genüge; nach dem Aufenthalt und dem Ergehen des nach Kaschan verbannten Veziers zu fragen, wurde ihr erspart durch den Eifer, mit welchem der Alte seinen Gästen von allem erzählte, was den Amire betraf, dessen Verdiensten um das Vaterland er die höchste Bewunderung zollte.

Noch am Tage ihrer Ankunft wurde Anymeh vor den am Rande der Stadt gelegenen Staatspalast geführt, dessen prächtige Gärten von einer hohen Mauer umgeben waren. Als Abdallah auf die bewaffneten Soldaten der königlichen Leibwache wies, welche das Thor zum Vorhof besetzt hielten, und sich darüber beschwerte, daß man den Verbannten gleich einem Gefangenen behandelte, atmete Anymeh erleichtert auf, und mit einem seltsam bewegten Klang in der Stimme unterbrach sie den Oheim: „Die Wachen dienen zu seinem Schutze.“ Dabei färbte ein lichtes Rot ihre Wangen. Sie dachte an Abdul Kerim. Abdallah aber bewunderte die Klugheit des Mädchens – erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wie wahrscheinlich es sei, daß die Rachsucht der Feinde des gestürzten Veziers diesem nach dem Leben trachten werde.

Eine wunderbare Beruhigung überkam seitdem das verängstigte Gemüt Anymehs. Der geliebte Mann lebte, er war vor Nachstellungen geschützt. So lange Thagi von Bewaffneten beschirmt war, würde Abdul Kerim – das hatte der Feige deutlich gezeigt – sich nicht an ihn heranwagen. Und Abdallah hatte erzählt, daß der Vezier auch bei seinen Ausgängen von einer Schutzwache begleitet werde. Dennoch trachtete sie mit Eifer danach, den Aufenthalt Abdul Kerims zu erkunden; vergeblich aber spähte sie nach ihm aus, wenn sie in Begleitung Abdallahs die Bazare und Karawanseraien besuchte oder allein durch die Platanenalleen schritt, welche sich an der Ummauerung der Gärten des Staatspalastes hinzogen. Vergeblich hoffte sie auch im stillen, den Geliebten ihrer Seele zu begegnen, aber sie verriet keine Unruhe. Sie trug sich jetzt ganz wie damals bei der ersten Begegnung mit Mirza Thagi, das Haupt mit der hohen weißen kegelförmigen Steifgazemütze geschmückt, vom blauen Schleier umflossen. Mit Freuden bemerkte Ghulam die günstige Veränderung im Wesen seiner Tochter. Und da ihr der Aufenthalt in Kaschan so auffallend gut that, ihn aber die Erntearbeiten dringend nach Hause riefen, so ließ er Anymeh auf deren Bitten bei den Verwandten, die sich nicht wenig drauf zu gute thaten, daß das schöne Mädchen bei ihnen so schnell wieder zur Genesung gelangt war, und begab sich allein auf die Heimreise.

Daß aber Anymeh den verbannten Vezier nie in den Straßen zu sehen bekam, war kein Zufall. Er hielt sich zurückgezogen. Es geschah auf besonderen Wunsch des Schah, der an Thagi durch einen Geheimboten die Weisung hatte gelangen lassen, seine Ausgänge bis auf weiteres einzustellen. Man war einer Verschwörung auf die Spur gekommen, die gegen das Leben des von so vielen gehaßten, im Volk so beliebten Staatsmanns gerichtet war.

Schon zweimal hatten die Wachen bewaffnete Mordgesellen festgenommen, die in der Nacht über die Mauer in den Palast einzudringen versucht hatten. In aller Heimlichkeit hatte man sie in Haft gebracht. Der Schah Nassr-Eddin wollte die Verschwörung ohne jeden Lärm unterdrückt sehen; er fürchtete, die vielen Anhänger und Verehrer seines bisherigen Beraters könnten sich zu einer Gegenbewegung hinreißen lassen, sobald die Sache ruchbar werde. Durch dieses Verhalten seines königlichen Herrn aber sah Mirza Thagi seine Voraussicht bestätigt, daß dieser der von ihm geschaffenen Lage in keiner Weise gewachsen war. Und er war nicht gesonnen, sich ganz gegen die Verabredung zum Gefangenen machen zu lassen. In seiner Einsamkeit überkam ihn bittere Reue, daß er der verführerischen Sprache des jungen Herrschers damals gefolgt war, als er noch im Studium der Wissenschaften ein reines Glück gefunden hatte. In den herrlichen Gärten, die den Staatspalast umgaben, weckte der Duft der Rosen die Erinnerung an die Lehren des großen Sängers von Schiras, Hafis, der in seinen Liedern die Thoren verspottet, die da vermeinen, die menschlichen Zustände durch Machtsprüche verbessern zu können, und statt dessen zum Genuß aller Schönheit dieser Welt einladet. Auch der sehnsüchtige Gedanke an Anymeh beschlich ihn und die Vorstellung von dem Glück, das ihm an der Seite des seltenen Mädchens gewinkt hatte. Zu spät, denn jetzt erkannte er sein Heil nur noch in dem Entschluß, den Boden des Vaterlandes zu verlassen, auf dem ihn überall der Meuchelmord bedrohte. Tiflis, jenseit der Grenze, wo die persische Geisteskultur ein Asyl besaß und ihm der Weg zu seinen alten Lieblingsstudien offen stand, sollte ihm Zuflucht gewähren. Der Schah, in seiner Verlegenheit, billigte den Wunsch, und der Hauptmann der Leibwache, der für die sichere Hut des Amire verantwortlich war, wurde beauftragt, dessen Flucht in aller Heimlichkeit nach seinen Weisungen vorzubereiten.

Auch Abdul Kerim hatte von der Verschwörung gegen das Leben des abgesetzten Veziers Kenntnis erhalten. Von Freunden seines Vaters, der ja auch unter der Strenge des Amire zu leiden gehabt hatte, war er in Teheran in die Pläne eingeweiht worden. Der Feigling war hocherfreut, das Wagnis, dessen Ausführung Anymeh von ihm verlangt hatte, von Meuchelmördern ausführen lassen zu können. Er hielt sich in Kaschan ängstlich verborgen, in entlegenen Spelunken beriet er sich mit den gedungenen Banditen; auch von den Soldaten der Leibwache hatte er einige durch Bestechung gewonnen. Auf diesem Wege erfuhr er von dem Fluchtplane des Veziers.

An dem Abend, der für die Ausführung desselben festgesetzt war, befand sich auf Abdul Kerims Anstiften bereits eine Schar unterwegs, die den Flüchtling an einer bestimmten Stelle überfallen sollte. Mirza Thagi hatte sich jedes militärische Geleite verbeten. Er hatte, selbst gut bewaffnet, die Reise in einem Boot angetreten. Auf dem Fluß, der dicht hinter den Schloßgärten vorbeifloß, wollte er sich ein paar Stunden abwärts rudern lassen, zu einer Stelle, wo ein paar alterprobte Diener mit Pferden seiner harrten. Im Geäst eines Baumes hatte Abdul Kerim die Abreise belauscht. Mit einem Gefühl des Triumphs an Anymeh denkend, schlich er jetzt an der Mauer des Palastes hin, als er sich plötzlich angerufen hörte: „Kerim!“

Ein unheimliches Angstgefühl hatte Anymeh hierher getrieben. Abdallah hatte bei der Heimkunft am Abend von Gerüchten erzählt: des Veziers Leben sei durch eine Verschwörung bedroht. In einen Mantel ihres Oheims gehüllt, die Kapuze über ihr Haupt geschlagen, war sie heimlich zum Palaste geeilt.

„Ihr hier?“ stammelte aufs höchste verwirrt und erstaunt Abdul Kerim, der die Tracht eines Derwischs trug. „Was bringt Euch hierher?“

„Die Ungeduld über Eure Saumseligkeit. Ich bin zu Gast bei meinem Oheim Abdallah, dem Teppichweber!“

Da reckte sich Abdul Kerim mit Stolz empor. „Heute nacht noch wird der Verhaßte den letzten Atemzug thun. Anymeh – dann hab’ ich mein Wort gelöst! Fällt auch dein Todfeind nicht von meiner Hand – es ist mein Verdienst, daß

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 699. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0699.jpg&oldid=- (Version vom 22.2.2023)