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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

der Nähe sei – dann begann er lebhaft: „Mirza – ich habe mit dir etwas Wichtiges zu reden.“

„Ich bin Ohr, Herr,“ erwiderte Thagi, dem Schah sich anschließend und neben ihm herschreitend.

„Ich habe jetzt genug gesehen und erfahren,“ nahm der Schah, schwer seufzend und düster vor sich hin blickend, das Wort. „Unsere Finanzen sind zerrüttet, unser Heer ist verlottert, unsere Landwirtschaft liegt danieder, unsere Hilfsquellen versiegen immer mehr. – Wir haben keine eigene Politik – wir sind die gehorsamen Sklaven bald Englands, bald Rußlands geworden. – Ein Spott, ein Schemen von Staat! – Was hat man aus dem einst so blühenden und großen Lande gemacht! Alles ist in Schwäche, Genußsucht, Ehrlosigkeit versunken. Alles stiehlt und betrügt und will sich maßlos bereichern; der Höhere immer auf Kosten der Niederen und alle zum Schaden des Staates. Wir stehen am völligen Zusammenbrach, wenn das so weiter geht. – Sage ich die Wahrheit?“

„Du sagst die traurige Wahrheit, o König!“

„Es muß hier Abhilfe geschaffen werden, schleunige, energische. Wir müssen einschneiden in das kranke Fleisch mit scharfen Messern und mit starker Hand. Ich will, ich muß! Ich schäme mich vor mir selbst, der Herrscher eines solchen Landes zu sein. – Sage ich zu viel, Mirza? Sprich!“

„Du sagst nicht zu viel, o König – aber du übernahmst das Reich in einem solchen Zustande – du bist an den sehr, sehr alten Uebeln nicht schuld.“

„Jedoch schon monatelang bin ich jetzt König, und ich habe keinen Stein in den Sumpf geworfen und keine Erde hineingethan, um ihn auszutrocknen,“ schloß der junge Schah in bitterem Tone.

„Es ist noch nicht zu spät, o König,“ warf Mirza Thagi hierauf ernst ein.

„Ich muß jemand zur Seite haben, der mir treu hilft,“ fuhr jetzt Nassr-Eddin fort. „Einen ehrlichen Mann, einen ernsten, strengen, thatkräftigen Mann, der allein steht, ohne Anhang in der verrotteten Beamtenschaft – und dieser Mann bist du, Mirza – du ganz allein.“

„O Herr, das ist ein Amt, ein Unternehmen, zu schwer für einen Menschen,“ erwiderte fast finster Mirza Thagi.

„Ich werde dir zur Seite stehen, mutig, fest und stark, und bald werden alle Vaterlandsfreunde uns zur Seite stehen; du sollst stets eine Stütze an mir haben, immer direkt mit mir allein verkehren, du kannst die Männer zur Hilfe wählen, welche du willst. – – Sag’, wirst du deinen König allein lassen?“

„Aber die Königin, Eure Mutter?“ warf Mirza Thagi besorgt ein.

„Ich weiß, worauf du deutest. Sie ist meine Mutter, aber – Gott mag ihr’s verzeihen! – sie ist der Schutzgeist aller der Gebrechen, die auf uns lasten und die unter meinem schwachen, kranken Vater so tief sich einfraßen. Will sie uns hindern, werde ich ihr – Gott wird mir’s verzeihen! – entgegentreten,“ sprach entschlossen Nassr-Eddin. „Es werden alle unbrauchbaren und ungetreuen Beamten entfernt. Du trittst an die Spitze der Regierung. Ich ernenne dich zum Vezier des Reichs, verleihe dir den Titel Amire-nizam – du wirst mir der große Arzt unseres kranken Landes sein.“

„Ich, der Sohn eines Koches!“ hielt Mirza dagegen. „Ein armer Mann, aus einer der niedersten Familien des Reiches!“

„Gerade deswegen. – Ich zeige dadurch merklich und eindringlich, in einer unverkennbaren Sprache, daß ich mit dem Alten gebrochen habe, daß eine neue, andere, bessere Zeit beginnt, in welcher Arbeit, Ehrlichkeit, Kenntnisse, Klugheit und wirkliches Verdienst gelten sollen.“

„Man wird mich, den Sohn des Küchenmeisters, verlachen,“ warf der Mirza ernst ein.

„Der Tod dem, der dich verlacht!“ rief der junge Schah. „Und bist du, Mirza Thagi, der Mann, der sich verlachen läßt? Das wäre mir ganz neu an dir. Ich weiß, was ich thue, Mirza! Du bist der Mann, der Hilfe bringen kann. Du kennst das Volk. Du kennst alle Gebrechen, an welchen mein Reich krankt. Du hast einen tapferen Geist, scharf wie Stahl, alles durchleuchtend wie die Sonne, und eine eiserne Hand. Du verstehst mit den Fremden zu verkehren, das habe ich gesehen: ich täusche mich nicht in dir. Wenn dein Freund dich bittet und dein König befiehlt, was wirst du thun?“

„Dem Befehle folgen, o König!“

„Nur dem Befehle, Mirza?“

„Nein, auch dem Wunsche meines erhabenen Gebieters.“

„So sei es, Amire-nizam!“ sprach darauf der Schah. „Wir dürfen nicht zögern, nicht eine Stunde soll verloren gehen – noch heute werde ich meinen Entschluß verkündigen und dich in alle Würden einsetzen, dir die höchste Macht neben der meinen geben, und dann wollen wir gemeinsam an das ernste Werk gehen. Reformen heißt dies, Reformen an allen Gliedern des Reichs, von den Wurzeln bis hinauf zum Wipfel.“ Nassr-Eddin ergriff beide Hände seines neuen Veziers und drückte sie herzlich.

So endete diese merkwürdige für die Entwicklung des neuen Persiens so wichtige Unterredung in den Gärten der Sommerresidenz zu Niaveran, sechs Monate nach der Thronbesteigung des neuen Schah.

Nassr-Eddin hatte nicht in einer Aufwallung des Augenblicks gesprochen – es war ihm bitterer Ernst um die Sache, er war vom heftigsten Zorn erfüllt gegen die herrschende Korruption, Schlaffheit und Beutelschneiderei. Er verkündete, daß von heute an Mirza Thagi Vezier des Reichs sei, mit den höchsten Machtbefugnissen, und daß er, der Schah, alles billige, was der neue erste Minister anordnen und ausführen werde.

Dies Ereignis hatte eine Wirkung gleich einem Blitz aus heiterem Himmel und machte zuerst am Hofe ein ganz ungeheuerliches Aufsehen, und dann lief die Nachricht durch das Land, wo die unerhörte Maßregel unheimliche Gefühle, namentlich in den Kreisen der Beamten erweckte, während das niedergedrückte Volk nur neue Uebel befürchtete.

Auch bei Anymeh hatte die Kunde, welche ihr natürlich noch am selben Tage zu Ohren kam, keine rechte Freude erweckt, namentlich weil der Tag, dessen Verlauf sie nach Minuten zählte, vorüberging, ohne daß ihr Geliebter sich zu dem entscheidenden Schritt, von dem ihre ganze Zukunft, ihr Lebensglück abhing, einstellte. Aber die kluge Perserin entschuldigte den Mann ihres Herzens mit der Fülle der durch einen solchen Umschwung der Verhältnisse herandrängenden Geschäfte, die es ihm sicher unmöglich machten, zu ihrem Vater zu kommen. Der alte Ghulam schüttelte bei der Nachricht den Kopf und äußerte: „Ist er ein ehrlicher Mann und ein tüchtiger, gerechter Vezier, so werden sie ihm bald den Kopf abschneiden, und ist er wie die andern, so haben wir durch diesen Wechsel nichts gewonnen. Deine Einbildungen aber Anymeh kannst du ruhig zu Grabe tragen. Wie wird ein solcher Mann, ein Vezier, die Tochter Ghulam Husseins zum Weibe nehmen!“

„Das muß die Zukunft erst erweisen, Vater,“ antwortete darauf Anymeh fest und zuversichtlich, jedoch der Blick ihrer Augen war dabei nicht heiter.

Das Staunen am Hofe über die Erhebung des Sohnes des Küchenmeisters zum ersten Minister des Reiches ging bald in Entsetzen über, als der neue Vezier eine ganze Reihe von Hofbeamten fortschickte, weil ihre Aemter nicht nötig seien und der Stand der Staatseinkünfte diese Belastung verbiete. Im Hoflager trieben sich zu Hunderten Diener und Klienten der höheren Beamten herum, welche diese auf Kosten des Hofes ernährten, und deren von der Staatskasse ihnen ausgezahlten Sold diese Nichtsthuer zum größten Teil ihren Herren geben mußten. Der neue Vezier schaffte hier gründlich Wandel. Er ordnete an, daß diese Hofchargen ihre Diener auf eigene Kosten zu erhalten und zu besolden hatten, worauf der ganze ungeheuere Schwärm wie weggeblasen verschwand. Dann ging Amire-nizam gegen die Gouverneure der Provinzen vor: schamlose Erpresser und Aussauger des Landes, die kaum den zehnten Teil der von ihnen aufs unbarmherzigste eingetriebenen Steuern der Staatskasse zuführten. Er setzte diese ab, ließ ihnen durch neuerrichtete ordentliche Gerichtshöfe den Prozeß machen und einige der ärgsten Schufte einkerkern. Er führte ein geordnetes Steuerwesen ein. Amire-nizam gab dem Lande eine geregelte Militäraushebung. Bisher hatten die Viertelsmeister der Städte und die Machthaber in den Dörfern die bestimmte Anzahl von Rekruten einfach aufgegriffen und mit Gewalt, halbtot geprügelt und gefesselt, wenn sie nicht willig waren, in die

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