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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Arm um den Hals des Mannes geschlungen, der andere aber ist mit einem Tuch aufgebunden, und die sonst so wilde Hummel stöhnt.

„Was ist geschehen, arme Pia?“ fragt Cilgia teilnahmsvoll. Die Antwort ist ein Gewimmer.

Der Wildheuer erzählt, auf der Rückkehr habe er unter einem Felskopf ein Weinen gehört, er sei in die Tiefe gestiegen und habe auf einem Gesteinsband Pia mit zerschmetterter Schulter gefunden. Sie habe eine Ziege, die sich verstiegen, von dem Felsenkopf holen wollen und sei, während sich die Geiß selber zurückgefunden habe, gestürzt.

Die Verletzte aber erhebt ein zorniges Geheul. „Es ist niemand als Paltram schuld! Seit er in unserm Hause wohnt, der Camogasker, habe ich Unglück über Unglück. – Ihr seid auch schuld, Fräulein!“ Und der verwundete Waldteufel läßt die Funkelaugen rollen.

Dennoch begleitet Cilgia das seltsame Paar des struppigen Wildheuers und des fast zart gebauten braunen Mädchens, das in einem fort wimmert und heult, zu der Hütte, in deren erstem Stockwerk es mit seiner kindischen Großmutter wohnt.

Der Wildheuer war kaum mit seinem schweren Tritt in die Stube getreten und hatte das stöhnende Kind auf eine Bank gesetzt, als er sagte: „Ich habe schon viel Zeit versäumt – mein Weib ist in Sorge um mich – ich muß heim – Guten Abend!“

In dem muffigen Gemach war es dunkel, die Alte irrte händeringend hin und her. „Mein Schäfchen, mein Rößchen, wer hat dir das gethan?“

Zuletzt gelang es Cilgia einen Kienspan anzuzünden.

Aber was nun? – Sie verstand so wenig von der Behandlung Kranker und der nächste Arzt war in Samaden.

Markus Paltram! schoß es ihr durch den Kopf. Hat man nicht immer erzählt, daß er vor Jahren an Krankenbetten gestanden und sich dabei mancherlei Kenntnisse angeeignet hat? Vielleicht weiß er einen ersten guten Rat!

Sie schrak davor zurück, ihn zu rufen; als aber das Kind stärker weinte, verwand sie mit einem Seufzer ihre Scheu.

Paltram arbeitete, als sie den Kopf durch die Thüre steckte, noch bei einer hellen Lampe an einer Gewehrfeder.

„Kommt schnell, Pia ist gestürzt!“ bat sie.

Da hob er den ausdrucksvollen, von der Lampe hellbeleuchteten Kopf: „Was geht mich der Waldteufel an! – Ich muß das Gewehr für Gruber fertig machen, er läßt es nächstens abholen.“

Cilgia wollte sich schon mit einer Gebärde der Verachtung von ihm wenden, da sagte er rasch: „Ich komme.“

Schnell erhob er sich nun und folgte ihr, seine Lampe mit sich nehmend.

Pia schrie auf, als er in die Stube trat, und die Alte kauerte, die Hände über die Knie geschlagen, in einen Winkel und beobachtete ihn mit entsetzten Augen.

Mit ruhigem Ernst schaute er der Leidenden, die sich bei seinem Anblick krümmte, ins Gesicht. „Ich muß jetzt halt thun wie ein Arzt,“ wandte er sich in entschuldigendem Ton zu Cilgia. „Pia, setze dich auf einen Schemel,“ befahl er streng, und als sie ihm in zitternder Furcht gehorchte, streifte er dem Mädchen das Hemdchen von den noch kindlich schmalen Schultern.

Cilgia trat errötend ins Dunkel zurück, Pia schrie, sperrte sich und wies ihm das weiße Gebiß. Doch sonderbar – er richtete nur sein hartes Gesicht und sein strenges, ruhevolles Auge auf sie und ihr Ingrimm erlahmte in gräßlicher Angst.

Mit eiserner Ruhe stellte er sich vor und hinter das Kind, verglich in angestrengter Aufmerksamkeit die stark gerötete, blutunterlaufene linke Schulter mit der gesunden rechten – besann sich – betastete die zerschlagene Achsel lange und sorgfältig und sagte dann freundlich zu Pia: „Es ist ein Wunder, wie du das erträgst!“

Da ging doch ein Zug der Befriedigung über das schmerzverzerrte Gesichtchen.

Damit Pia es nicht verstehe, wandte er sich deutsch an Cilgia: „Der Fall ist sehr ernst – es hat sich ein ausgerenkter Knochen ins Schulterblatt gebohrt!“

„Soll ich den Mesner zu Doktor Troll in Samaden schicken?“

„Ich fürchte,“ sagte Paltram nach einer Pause und ohne eine Spur von Selbstgefälligkeit, „der versteht gerade von diesen Verletzungen weniger als ich. Und woher nähme er die Zeit für die lange Behandlung, die nötig ist, wenn Pia nicht ein elender Tropf werden soll?“

Maßlos wuchs das Erstaunen Cilgias über Paltram, über seine sichere Art, zu sprechen.

Er wandte sich wieder zu dem zitternden Mädchen, hob vorsichtig den linken Arm, schwenkte ihn langsam nach innen und außen und beobachtete dabei die Züge ihres Gesichts. „So, das thut weh!“ sagte er einmal, als es sich jäh schmerzlich verzog.

„Fräulein Premont, haltet doch einmal den rechten Arm Pias straff rückwärts! Gut!“

Langsam hob er den linken Arm Pias, schaute ihr mit einem Ausdruck ins Gesicht, daß sie zuckte vor Furcht, zog den Arm mit einem raschen Ruck wagrecht und schnellte ihn so in einer Biegelage aufwärts, daß die Hand der entsetzlich Schreienden die kranke Schulter berührte.

Man hörte deutlich ein Knacken, die Alte fuhr aus dem Winkel: „Mordio – mordio!“

Paltram aber sagte gelassen: „Legt sie zu Bett – für heute ist alles gethan.“

Da führte Cilgia die Blasse in das Nebenstübchen. – Eine Weile später folgte Paltram.

Pia wimmerte immer noch kläglich.

„Ja, schläfst du noch nicht?“ fuhr Paltram sie barsch an, rückte einen Stuhl zu ihr hin, setzte sich, legte die Hand auf ihren Scheitel, sah sie mit seinen blauschwarzen, geheimnisvollen Augen ruhig an und sagte milder: „Schlaf jetzt, Pia!“

Mit unheimlicher Stärke und Kraft ließ er den Blick auf dem schmerzreichen Gesichtchen ruhen.

Eine Weile verstrich in tiefer Stille, leise stöhnte die Kleine noch, aber unter den Augen Paltrams fielen ihre Lider zu und die Züge des kleinen hübschen Gesichts verloren den schmerzlichen Ausdruck und versteiften sich.

„So, die Hornisse schläft!“ sagte Paltram.

„Ich will die Mesnerin schicken, daß sie bei ihr wacht,“ erwiderte Cilgia; „ich muß nun doch wieder ins Pfarrhaus gehen.“

„Eine Wärterin ist kaum nötig,“ antwortete er.

Gemeinsam verließen Cilgia und Paltram die Kammer der Schlummernden, Cilgia gab ihm aber auch an diesem Abend die Hand nicht, ihr Groll über das Jagdbild im Rosegthal war noch zu frisch und lebendig. Mit kühler Zurückhaltung sagte sie: „Ich danke Euch, daß Ihr Euch zu einer That der Barmherzigkeit habt finden lassen.“

Mit tiefer Enttäuschung erwiderte er ihren Gutenachtgruß, sah ihr aber so lange nach, bis sich der letzte Ton ihrer Schritte im Grau der Nacht verlor.

In stürmischer Erregung erreichte Cilgia das Pfarrhaus. Was ist Markus Paltram für ein Mensch? – Sein Blutdurst ist verabscheuenswürdig, aber – – so gewaltig ist kein andrer wie er! Wie hat er Wille und Schmerz Pias bezwungen – was für ein wunderthätiges Auge hat er!

Die geheimnisvolle Kraft, die man ihm nachsagte, sie hatte sie mit eigenen Blicken gesehen, und sie ist ihr wohl wunderbar, aber auch als der natürliche Ausfluß seines machtvollen Wesens und gar nicht so unheimlich erschienen, wie es die Leute schildern.

Wer ist er?

Eine heiße Bewunderung streitet mit dem tiefen Abscheu, den sie gegen ihn gefaßt hat. Und sie spürt, daß ihr Herz ihm gehört. –

Aber obwohl sie beide sich immer wieder am Schmerzenslager Pias begegneten, sie sprachen kein vertrautes oder überflüssiges Wort miteinander und Paltram sehnte sich umsonst nach einem Händedruck Cilgias.

Diese weilte fast den ganzen Tag in der Kammer der ungeduldigen und eigensinnigen Kranken, die es nicht erwarten, konnte, bis die Großmutter am Abend mit ihrer Ziegenherde zurückkam und sie sich nach jeder einzelnen Geiß erkundigen konnte.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0678.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2023)