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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

aufwärts und zergeht in der Klarheit der Luft! Die unersteiglichen Berge heben drüben selig die weißen Kronen – ein Traum der Schönheit ruht über dem Land – Onkel, Onkel, und wir sind die einzigen, die ihn kosten und trinken! Und vielehunderttausendmal schon ging die Riesenblume auf und funkelte den langen Tag und kein Mensch hat sie gesehen! Ist das nicht schrecklich, Onkel?“

„Du weiblicher Rousseau!“ spottete der Pfarrer. „Gehe hin und sage es, daß die Berge schön seien. Niemand als ein paar Schwärmer glauben es dir in weiten Landen. Meinst du, die Menschen hasten umsonst mit bleichen Gesichtern und ein Stoßgebet auf den Lippen über die Pässe?“

„Das ist aber im Winter,“ versetzte Cilgia.

Fern und nah ertönte der schrille Warnpfiff des Murmeltiers – sonst umgab sie die feierliche, grenzenlose Stille des unbetretenen Gebirges.

Und auch Cilgia wurde ernst.

Still schritten sie gegen die Höhe, wo zwischen zwei mächtigen Felskuppen die Trümmerwüste der Forcla sur Ley, des Gemsjägerübergangs vom Seethal des Engadins zum Gletscherthal des Roseg, eingebettet liegt.

Da flutet ihnen plötzlich überirdisches Licht entgegen und schlägt wie eine weiße Flamme gegen sie, und zurückweichend bedeckte Cilgia ihr Angesicht.

„Die Bernina!“ sagte der Pfarrer. Und auf einen freien Felsen warf er den Rucksack und setzte sich behaglich.

„Da halten wir Mittagstisch!“

Langsam gewöhnt sich Cilgia an das Uebermaß der Sonnenflut.

Sie steht und staunt.

Nur durch den tiefen Abgrund des Rosegthales von ihnen getrennt, ragt die Bernina, mit ihren Schildhaltern Piz Roseg und Piz Scerscen vor ihnen – Königin und Pagen vom Fuß zum Haupte frei in funkelndem Weiß – eine Phantasmagorie des Lichts. Und über den strahlenden Häuptern brennt die kleine Sonne aus schwarzblauem Himmel. Wortlos staunte Cilgia eine Weile.

„Kind, komm, iß Brot und Bindenfleisch[1], stärk’ dich am Veltliner!“ mahnte der Pfarrer.

Und sie tafelten. Plötzlich aber erschrak Cilgia – ein kurzer Knall und ein leises Rollen an den Gebirgswänden.

Auch der Pfarrer horchte.

„Es ist kein Lawinendonner,“ sagte er, „dafür ist der Knall zu kurz; es muß ein Jäger im Gebirge sein. Es wundert mich nur, wer es sein möchte. Es ist doch noch nicht Jagdzeit?“

Er stand auf, nahm den Rohrspiegel aus der Hülse, trat etwas vor, musterte damit aufmerksam das Thal und die gegenüberliegenden Gebirgswände.

„Ich sehe dort Gemsen, sie ziehen eilig nach oben – den Jäger aber kann ich nicht entdecken.“

Rüstig gingen sie dann weiter. Bald stiegen sie, thaleinwärts haltend, gegen die Stelle hinab, wo sich die aus den jähen Flanken des Schneegebirges quellenden Gletscher, die mit blauen Grotten und Spalten prangen, zu einem einzigen, mächtigen Eisstrome vereinigen, der in fächerförmiger schöner Wölbung in den grünen Grund des Rosegthales hinausfließt.

Und dann und wann psalterten die Berge im Donnergeroll und von den Flanken der Bernina stürzte Schnee wie leuchtende Wasserfälle. Wieder unterbrach ein kurzer, schwacher Knall die Stille des Gebirgskreises.

„Es muß doch ein Jäger da sein!“ bemerkte der Pfarrer.

Sie erreichten die Bergamaskeralp Ota, und plötzlich stand vor ihnen ein Schäfer aus den südlichen Bergen.

Was für eine Gestalt! Ungebeugt von der Last der Jahre, in einen malerischen, weißgrauen Mantel geschlagen, die Beine mit Filz umwickelt und umschnürt, auf dem zerzausten Haupt wieder einen viereckigen Filz, neben sich den knurrenden Wolfshund, so stand er markig bei seiner Herde.

Bei ihm ein fast ebenso malerischer Bube, der die Augen wie vor einem Wunder aufriß, als er das schöne Mädchen erblickte.

Der alte, würdige Senn, dieses Urbild des ungezähmten, doch gutmütigen Sohns der Wildnis, litt es nicht anders: der unerwartete Besuch mußte in seine Hütte treten und aus flachen Holzschüsseln Milch trinken und einen Bissen Schafkäse kosten.

Da hallte wieder ein Schuß durch die Berge.

„Ja, es wird schon Paltram sein, der jagt,“ wandte sich der Alte an den Pfarrer, „am hellen Werktag sah ich ihn zwar noch nie im Rosegthal, aber am Sonntag ist er immer auf den Grasbändern. Wenn ich in Pontresina Brot holte, traf ich ihn schon des Nachts im Thal, und wie das entsetzliche Wetter über die Bernina zog, wer klopfte um Mitternacht, als der Hagel und die Graupeln prasselten, alle bösen Geister los waren, an meine Thüre und bat um Unterkunft? – Markus Paltram!“

Also hat die Pia doch nicht gelogen, dachte Cilgia, und in ihr gärte ein Mißbehagen.

Schweigend schritt sie neben ihrem Onkel von der Hütte auf dem Gras- und Geröllweg über dem gefurchten Strom des Gletschers dahin und der Pfarrer zeigte Cilgia die an den Felswänden äsenden Gemsen.

„Ja, nun sehe ich, daß sich dort auf den Grasbändern etwas bewegt – aber es sind nur braune, unsichere Schatten. Gebt mir das Fernrohr, daß ich sie deutlich erkenne!“

Sie waren jetzt an den Ort gekommen, wo sich der Gletscher in schillernden Brüchen und jäher Wölbung zu Ende neigt, der Rosegbach mit silbernen Wellen aus einem Eisthor strömt und durch erfrischend grünen, kurzen Rasen thalauswärts sich schlängelt.

„Eine wundervolle Stelle,“ sagte Cilgia. „Die weißen Wände noch ganz nahe, wenige Schritte unter uns der Gletscher und neben uns schon der erste herrliche Wald. O dieser Hain! Ist er nicht wie ein Friedhof des Südens? Die mächtigen kantigen Blöcke, die so wunderlich aufeinander gestürzt liegen, sind die Gräber und Denkmäler, die seit Jahrhunderten verwittern, und wie gleichen die Arven, die zwischen ihnen ragen und auf ihnen stehen, den Pinien, den feierlichen Gräberbäumen!“

„Und,“ stimmte der Pfarrer den freudvollen Ton seiner Nichte herab, „gleich über dem schönen Wäldchen ist an den Felsen eine Salzlecke, zu der immer Gemsen kommen! Sie sind jetzt aus Furcht vor uns gegen die Forcla gestiegen, aber wenn wir uns verbergen, kommen sie wieder, und am obern Rand des Wäldchens sehen wir sie bequem.“

Der gute Pfarrherr schnupperte in die Luft und prüfte mit angefeuchtetem Finger ihren Strom. „Sie treibt über den Piz Rosatsch gegen uns,“ sagte er befriedigt. „Ich will vorangehen, damit du den Weg durch das Labyrinth von Blöcken findest.“

Am obern Rand des Hölzchens, im Schutz der Arven und eines großen Blockes, der sie verbarg, setzten sie sich.

Die Bernina warf schon blaue körperliche Schatten und der Gletscher erglänzte in den weichen Farbenspielen des Abends.

„Sie müssen bald erscheinen,“ flüsterte der Pfarrer, „sonst kommen sie nicht mehr. Sobald hier Schatten herrscht, wagen sie es nicht mehr. – Schau, der Durst und die Lust nach Salz treibt sie. Da kommen sie schon!“

Im Galopp springen die Gemsen von oben links die Felsen- und Geröllhalden herab. Sie halten auf halbem Weg – es ist ein Rudel von elf Stück. Sie wittern in die Luft. Sie kommen vorsichtig näher. Nun stehen sie wieder still.

Atemlos belauscht Cilgia das Schauspiel.

Die schlanken, rotbraunen Tiere strecken elastisch die Hälse, eines macht einen lustigen Quersprung, andere reißen einen Wisch kargen Alpengrases ab, andere bekämpfen sich mit den zurückgebogenen Hörnern; die einen nahen arglos, die andern vorsichtig. Wie behend, frisch und anmutig ist ihr Gang und Spiel, so voll Gescheitheit alles, was sie thun!

Und so herrliche Tiere hat Sigmund Gruber in grausamer Falle erschlagen können!

Cilgia pocht das Herz. Nur wenig hoch über ihr hält die Schar. Allen voran naht sich eine Gemse mit ihrem Jungen dem tropfenden Fels. Dicht hält sich das Zicklein an die Alte, und Cilgia sieht in die schönen, schwarzen, glanzvollen Augen des mütterlichen Tieres.

Das Junge senkt den Kopf zierlich zum Trunk, die Muttergemse hebt den ihren über den schmalen Rücken des Kleinen empor, als wolle sie sich noch einmal versichern, daß ihm keine Gefahr drohe, und drängt die Brust nach vorn.

Und nun weiß Cilgia nicht wie ihr geschieht.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0651.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2023)
  1. Bindenfleisch ist an der Luft gedörrtes Ochsenfleisch, eine Delikatesse des Bündnerlandes.