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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Ich verstehe das nicht,“ versetzte Cilgia eifrig, „mit Schmerzen läßt man das junge Volk in die Fremde ziehen und mühsam ringen die Engadiner in fremden Städten um ihr Brot. Warum sollten nicht zwei oder drei, die sich draußen im Heimweh verzehren, ihr Auskommen als Gastwirte in St. Moritz finden?“

„Eben das will man nicht,“ erklärte der Pfarrer in seiner gemütlichen Ruhe. „Wir Engadiner haben unsre Mucken und treiben uns wohl in der Fremde gern und geschickt unter den Fremden um, daheim aber lieben wir es, unter uns zu sein. Und nicht wahr, Herr Konradin,“ fügte er lachend bei, „die von St. Moritz sind die stärksten Aristokraten?“

Allein Herr Konradin, an den sich der Pfarrer wenden wollte, war nicht mehr bei der Gesellschaft. Tiefsinnig schlenderte er fünfzig Schritte hinter ihr her. Man war bei dem Steg angelangt, der über den Inn führte. Dort blieb Cilgia plötzlich stehen und staunte in die klaren Wasser.

Die drei Jünglinge aber, die mit dem Pfarrer weiter schritten, deuteten scherzend an, daß sie wohl auf Herrn Konradin warte und sich allein mit ihm unterhalten wolle.

„Jetzt schüttet er ihr wieder das Herz aus,“ spottete Luzius von Planta, nach den Zweien zurückblickend.

Und allerdings sahen Cilgia und Konradin im sanften Aufstieg gegen das Dörfchen nicht, wie der See unter ihnen leuchtete und funkelte.

„Ja, Ihr habt recht,“ erwiderte Konradin eben auf eine lebhafte Ansprache Cilgias, „etwas thun, was vielen zu gute kommt! – In der untern Schweiz blühen Baden und Schinznach an ihren Quellen, im Appenzeller Land sammelt sich eine feine Welt im Heinrichsbad – aber es ginge mir schlimmer als jenem, der es schon versucht hat, mit dem Brunnen von St. Moritz Leidende erlösen zu wollen.“

„Erzählt doch, Herr Konradin!“ bat Cilgia.

„Es ist eine Historie für einen Kalender!“ lachte er bitter. „Unser Dorf ist damals statt zu einem Mineralbad zu einer überflüssigen Kirche gekommen.“

Da lachte auch sie neugierig.

„Es mögen jetzt zehn Jahre her sein,“ erzählte Konradin. „Weil immer etwa noch vornehme Reisende, selbst Prinzen und Fürsten an unsern Gesundbrunnen kamen, glaubte ein junger St. Moritzer, der die Welt gesehen, unser Dorf könnte ein Heilbad werden und dadurch großer Wohlstand in die Gegend ziehen. Schon neigte sich ihm die Gemeinde zu. Allein ein einflußreicher Mann widersetzte sich: ‚Was brauchen wir ein Bad mit seiner Unruhe!‘ Und da er von echter Frömmigkeit und im übrigen wohlmeinend war, machte er einen Gegenvorschlag: ‚Unser altes Wallfahrtskirchlein ist baufällig, sein Turm steht schief, laßt uns statt eines neuen Bades eine neue Kirche bauen!‘ Parteien bildeten sich. Und plötzlich kam ein stellenloser Pfarrer, der ein St. Moritzer Kind war, ins Dorf, man fand, es sei billig, daß man für ihn sorge, und unser Dörfchen mit seinen hundertachtzig Seelen bekam statt eines Bades nicht nur zwei Kirchen, sondern auch zwei Pfarrer, bis der eine starb.“

„Das ist wirklich eine komische Geschichte!“ lachte Cilgia.

„Mich aber däucht sie traurig,“ versetzte Konradin, „denn hört: der das Bad wollte, war der junge, thatkräftige Melcher – der uns die überzählige Kirche gab, die noch nicht bezahlt ist, mein Vater.“

„Und Ihr liebt die Tochter seines Gegners,“ ergänzte Cilgia die Gedanken Konradins. „Aber sagt: es ist ja doch alles anders worden durch den Veltliner Raub – das Engadin schreit nach neuem Leben – das muß doch auch Euer Herr Vater einsehen!“

Schweigend waren sie weiter gegangen und ins Dörfchen St. Moritz auf der sonnigen Höhe gekommen.

„Da steht die thöricht erbaute Kirche,“ zürnte der Jüngling, „gleich neben ihr wohnen wir!“

„Und wessen sind die schönen Blumen, die Euch gegenüber die Fenster schmücken?“ fragte Cilgia.

„Menjas,“ erwiderte Herr Konradin.

Einander in die Fenster schauten die Häuser der zwei Männer, die so bittere Gegner waren!

Richtig: oben hinter den Nelken und Geranien im kleinen Fenster erschien der liebliche blonde Mädchenkopf, und nickend grüßten die Freundinnen.

Die übrige Gesellschaft begrüßte die beiden Nachzügler fröhlich, und man trat in das stattliche Junkernhaus, durch das die Luft bäuerlich-herrischer Vornehmheit wehte.

Voll aristokratischer Liebenswürdigkeit kam ihnen der Landammann, der schöne würdige Mann mit glattrasiertem Gesicht und wohlgepflegtem Wesen, entgegen und führte sie an den festlich gedeckten Tisch. Er sprach sein Ladin mit einer gewissen Umständlichkeit und Zierlichkeit, die er selbst beim Tischgebet nicht ablegte, und besaß die Gabe, sich mit allen zugleich zu unterhalten.

Besonders zuvorkommend war er gegen Cilgia, auch für jeden der Jünglinge hatte er ein aufmerksames Wort, nur für Konradin nicht, sondern vernachlässigte ihn, während der Sohn mit fast ängstlicher Spannung auf das Gesicht des Vaters sah und prüfte, ob das, was er thue, auch seinen Beifall habe. Und im Gefühl innerer Unfreiheit benahm er sich linkisch.

Cilgia wandte sich mehrmals sehr freundlich an ihren Schützling, und die wackere einfache Mutter Konradins, die sich besonders mit dem Pfarrer unterhielt, aber gleichsam immer auf der Wacht stand, um mit einem glättenden Wort zur Stelle zu sein, wenn der Vater den Jüngling kränken sollte, dankte es ihr mit einem warmen Blick.

Den hatte der Landammann aufgefangen.

„Ja, ja, Fräulein,“ wandte er sich an Cilgia, „ich bin manchmal in Sorge um Konradin. Er ist jetzt zwanzig Jahre alt, aber man weiß nicht: ist der Duckmäuser beschränkt oder klug, wird er im Leben Axt oder Stiel?“

„Axt wird er – nicht wahr, Herr Konradin, Axt?“ Und sie reichte dem errötenden Jüngling freimütig die Hand.

„Glauben Sie ganz fest, Herr Landammann, Sie werden an Herrn Konradin noch große Freude erleben! – Er kommt nur etwas später als andere; denn Kirschen und Trauben werden nicht zu gleicher Zeit reif.“

Und mit ihren großen schönen Augen sah sie den alten Aristokraten siegreich an. Der Landammann lachte: „Wohlan! Das will ich noch gern erleben, was aus Konradin Kluges wird!“

Nach dem Mittagsmahl sagte der Pfarrer: „Jetzt bitte ich um Entschuldigung, ich möchte gern noch Melcher grüßen.“

Ein Schatten der Verdrießlichkeit huschte über das Gesicht des Landammanns.

Pfarrer Taß aber scherzte beschwichtigend: „Zwei so gescheite Männer wie ihr sollten überhaupt gut miteinander auskommen. Daß Melcher Euch bei Oberst Diriviliez verraten habe, glaubt Ihr wohl selbst nicht mehr?“

„Hm, hm,“ versetzte der Landammann, „dafür haben wir uns doch etwas zu stark auf dem Strich.“

„Und Frau Landämmin,“ wandte sich der Pfarrer an die Mutter Konradins, „ich nehme also, um unparteiisch zu sein, heute abend Eure und Cilgia Melchers Gastfreundschaft in Anspruch. Und morgen in aller Frühe geht’s auf die Forcla sur Ley.“

„Auf die Forcla sur Ley? Was habt Ihr dort auf den wüsten Felsen zu suchen?“ bemerkte der Landammann verwundert.

„Da müßt Ihr Cilgia fragen!“ scherzte Taß; „ich weiß nur eins: die alten Pfarrersknochen müssen mit.“

„Die Schönheit des Landes wollen wir sehen,“ lachte Cilgia glücklich.

Der Landammann schüttelte den Kopf: „Es spuken so merkwürdige neue Ideen in der Welt; man stellt alles auf den Kopf!“

Frohmütiger war es im Hause Melchers, in welches Pfarrer Taß jetzt seine Nichte führte. Menja stand, als sie eintraten, wie ein Mütterchen unter einer Schar jüngerer Kinder, Mädchen und Buben.

Mit einem Ruf der Freude eilte sie auf die Freundin von Samaden zu; auch der lebhafte, selbstbewußte Melcher, der das rotbraune Kleid des Viehhändlers trug, erhob sich überrascht und legte die Kreide zur Seite, mit der er eben auf dem Schiefertisch gerechnet hatte.

„Also den alten Lorenz habt Ihr abblitzen lassen!“ lachte er nach der ersten Begrüßung. „Es ging ihm sehr nah’ – er ist ja ganz verschossen in Euch. Vielleicht besinnt Ihr Euch doch noch anders – der junge Gruber ist eine Partie!“

„Hinaus ins Freie!“ rief er dann dem Halbdutzend Kleiner zu. „Menja, eine Flasche Sasella!“

Bald nachher saßen die beiden Männer am großen Schiefertisch und tranken den Veltliner aus dem uralten Familienfaß,

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