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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)


Stift Neuburg bei Heidelberg.

Von Lorenz Werner.

Seit im Jahre 1877 der von Theodor Creizenach herausgegebene und erläuterte „Briefwechsel zwischen Goethe und Marianne von Willemer“ volle Klarheit über das wundersame poetische Herzensverhältnis verbreitet hat, welchem die schönsten Gedichte des „West-östlichen Diwan“ entblühten, wird von keinem Goetheverehrer, der die Gedenkstätten in des Dichters Geburtsstadt aufsucht, ein Gang nach der „Gerbermühle“ versäumt, wo jenes Verhältnis sich knüpfte.

Dieses einst vom Geheimrat Johann Jacob v. Willemer als Sommerwohnung benutzte, jetzt leider baufällige Landhaus, das an dem Fußweg zwischen Frankfurt und Offenbach am Mainesufer im Schatten alter Bäume liegt, ist damals schon den Lesern der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1877, Seite 804) in Wort und Bild geschildert worden.

Die Erinnerung an den Verkehr des Dichters mit Willemers jugendlicher Gattin Marianne, der in den Liebesliedern des Buchs „Suleika“ so reizvolle poetische Verklärung gefunden hat, ist aber auch mit jenem stattlicheren, noch heute gar wohnlichen Landsitz am Neckarufer verknüpft, den um 1825 der Frankfurter Oberstudienrat Johann Friedrich Schlosser erwarb, mit Stift Neuburg bei Heidelberg, und eine Schilderung dieser kürzlich von mir besuchten Gedenkstätte wird daher vielen willkommen sein. Weilte doch Marianne von Willemer oft auf Stift Neuburg als Gast in jenen Tagen, da sie an Goethe jene Briefe und Gedichte sandte, die ihm selbst am Ende seines Lebens als „Zeugen allerschönster Zeit“ erschienen.

Goethe hatte Frau von Willemer im September des Jahres 1814 in Frankfurt kennengelernt.

Er hatte vorher am Rhein erfrischende Reisetage verlebt. Während seines diesmaligen Aufenthaltes in der Vaterstadt wohnte er zunächst bei seiner mütterlichen Freundin, der Witwe des Schöffen Hieronymus Schlosser, sprach aber mehrmals bei dem mit ihr befreundeten Willemer vor, mit dem er schon früher in Briefwechsel gestanden und der dem Dichter nach dem Tode seiner Mutter beim Ordnen der Erbschaftsangelegenheiten im Verein mit dem jungen Johann Friedrich Schlosser, dem Sohn des Schöffen, wertvolle Dienste geleistet hatte. Höchst eigenartig waren die Umstände, welche der Verheiratung des schon betagten hochangesehenen und kunstsinnigen Bankiers mit Marianne vorangingen. Marianne Jung hatte kaum das vierzehnte Lebensjahr erreicht, als sie 1798, in Begleitung ihrer Mutter, der Witwe eines Instrumentenmachers aus Linz, mit einer Theatergesellschaft nach Frankfurt kam und die dortige Bühne in Kinderrollen betrat. Willemer, der als Mitglied der Oberdirektion des Theaters die hohe geistige Begabung des heiteren Mädchens kennenlernte, entschloß sich, die fast noch dem Kindesalter angehörige Marianne von der Bühne zu entfernen und für ihre weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Indem er der Mutter an Stelle der Vorteile, welche ihr aus der Bühnenthätigkeit der Tochter werden sollten, eine Entschädigung bot, nahm er die kleine Künstlerin in sein Haus auf. Dort ließ er sie mit seinen zwei noch im Hause lebenden Töchtern aus einer früheren Ehe gemeinsam erziehen, nicht ohne daß er von lieben Landsleuten manchen Spott über seine pädagogische Vorliebe für „schöne Gegenstände“ hören mußte.

  Das Stift vom Neckar aus gesehen.
Stift Neuburg.
Das Eingangsthor   Alte Grabplatte einer  
zum Stiftshof.   Stiftsäbtissin.  

Das Mädchen entfaltete indessen überraschende Talente im Zeichnen und Singen, sowie im deklamatorischen Vortrag

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 625. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0625.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2023)