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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

gleichgültig, was ich thue. ,Camogasker!‘ schreit man mir in die Ohren, wo ich gehe und stehe. Das Heimweh hat mich aus der Fremde heimgetrieben, aber der erste Gruß, der mich empfing, war: ,So, ist der Camogasker auch wieder da?‘ Was sagt Ihr dazu, Fräulein?“

Einen Augenblick besann sich Cilgia. Dann sagte sie voll Güte und feierlich: „Besiegt diesen Fluch, Markus Paltram!“

Da färbt sich sein Gesicht dunkelrot vor Erregung.

„Ich habe den Welt- und Menschengroll zu früh als Kind eingesogen,“ stößt er hervor, „er ist in mir wie ein Gift! Ich bin wahrhaftig ein Camogasker!“

Es lag nicht Zorn oder Hohn, nein, ein Schmerzensschrei lag in seinen Worten.

Cilgia aber sagte sanft: „Kommt, ich will Euch eine Geschichte erzählen. – Ihr könnt daraus etwas lernen. – Es ist eine Geschichte, um die Ihr mich einmal gebeten habt. – Oder drängt Ihr in den Wald zu gehen?“

„Nein – nein!“

„Gut, dann setzen wir uns da an den Waldesbord. Es ist die Geschichte der ersten protestantischen Pfarrerin von Pontresina – ich habe eine Freude daran, obgleich ich vom Vater her Katholikin bin.“

Sie setzten sich an den Rand des Waldes. Ueber fernen Felsenzähnen ging die Sonne als ein blutroter Ball unter. Die rechtsseitigen Linien der Bernina glühten in einem Diamantensaum, die linksseitigen waren in der Blässe des Lichts kaum zu erkennen und die Schneefelder wiesen je nach ihrer Lage Töne wie blühenden Pfirsich und wie die grünliche Blässe eines Totengesichts.

Und Cilgia begann mit eigenartig gesenktem Ton:

„Es war in der bewegten Zeit der Reformation. Da suchte Paolo Vergerio, der früh durch seinen Glaubenseifer zum Bischof von Capo d’Istria vorgerückt war, das Lob Gottes darin, daß er die Ketzer der istrianischen Städte vertilgte. Zu Rovigno lebte die vornehme Familie der Dianti und besuchte die protestantischen Versammlungen. Ausgerüstet mit einem Brief des Papstes, der ihm das Recht erteilte, im ganzen Gebiet Venedig die Ketzer aufzuspüren und mit den Werkzeugen der Inquisition zu verfolgen, brach Vergerio in den heimlichen Gottesdienst ein und nahm alle, die daran teil hatten, gefangen, darunter die Familie Dianti. Unter der Folter bekehrten sich viele, andere blieben standhaft und starben für ihren Glauben, so Vater, Mutter und zwei Brüder der jungen, schönen Katharina. Das kaum erblühte Mädchen aber jammerte Vergerio. Seine Beredsamkeit zerschellte an ihrer Festigkeit; da wütete er gegen sie und die Henkersknechte drückten ihr die glühenden Eisen in Stirn und Arme und sie sollte verbrannt werden. Vergerio verging in Wut über die Widerspenstige und in Mitleid über ihre Jugend. In der Nacht aber, da der Feuerstoß auf dem Marktplatz schon geschichtet war, weckte ihn eine Stimme: ,Paolo Vergerio, was verfolgst du eine Gerechte?“ Da schrak er auf, und unter dem Vorwand, daß er versuchen wolle, ihr die Beichte abzunehmen, begab er sich ins Gefängnis. ,Du bist frei – ziehe, fliehe!‘ Und er selbst führte sie die Schleichwege durch die Stadt auf ein Schiff. Lange hörte man nichts mehr vom Bischof Paolo Vergerio, der Zierde der venetianischen Priesterschaft. Da flogen aus den Städten der Lombardei unerhört heftige Druckschriften gegen das Papsttum durch Italien. Paolo Vergerio! Den Krummstab des Bischofs hatte er mit dem Haken des Setzers und der Schraube des Buchdruckers vertauscht, und in der Nacht leitete er mit dem alten Feuer der Beredsamkeit protestantische Gemeinden. Verfolgt und verbannt kam er nach Sondrio, später nach Puschlav als Buchdrucker, und sein Ruf als protestantischer Prediger überstieg die Berge. Die Leute von Pontresina, die wohl von der neuen Lehre gehört hatten, aber nicht wußten, wie sich dazu stellen, schickten Boten an Vergerio und ließen ihn bitten, daß er zu ihnen komme und ihnen die neue Lehre erkläre. Er folgte dem Ruf, und nach der zweiten Predigt hoben die Leute des Dorfes, im neuen Glauben geeint, die silberne Monstranz vom Altar und die Bilder von den Wänden und warfen sie vom alten steinernen Brücklein feierlich in die Wellen des Berninabaches. Den Mann, der den Krummstab geführt, baten sie, daß er ihr Pfarrer bleibe. So geschah’s. Nach einiger Zeit aber, als die andern protestantischen Pfarrer im Engadin sich Frauen gaben, da wollten auch die Pontresiner eine Frau Pfarrerin haben und mißdeuteten die Ehelosigkeit Vergerios als ein Zugeständnis an den alten Glauben. Vergerio lächelte und bat um einen Urlaub, daß er eine Pfarrerin suche. Und nicht viel später führte er von der Bernina herab Katharina Dianti, die schöne Istrianerin, in das Pfarrhaus des Bergdorfs. Heimat und Verwandtschaft hatte sie um ihn verlassen, um den, dessen Wundmale sie an der Stirne trug, und zum Gedächtnis seiner großen Verirrung und in Bewunderung für sie hat er die Bilder malen lassen und selbst mit Rot darunter geschrieben: ,Er schlug sie und unterlag – Sie liebte ihn und siegte.‘ – Das Gedächtnis beider ist von der Nachwelt gesegnet.“

So erzählte Cilgia und gab jedem Wort die Klangfarbe, die es im Glanz seines Wertes leuchten ließ.

Lange schwiegen beide, Cilgia mit glänzenden Augen. „Warum sprecht Ihr nicht, Paltram?“ fragte sie mit merkbarer Ungeduld.

„Ich überlege,“ antwortete er nachdenklich, „was ich aus der schönen Geschichte lernen soll.“

„Ja, wenn Ihr das nicht spürt, kann ich Euch nicht helfen,“ erwiderte sie kühl und enttäuscht und erhob sich.

„Ihr wollt sagen, ich solle wie Katharina Dianti sein? Ich soll ein Held sein wie sie eine Heldin war!“

„Ihr versteht mich, Markus Paltram,“ sagte sie, und ihre Mienen heiterten sich auf.

„Die Geschichte ist wunderbar schön,“ sagte er tiefsinnig. „Sie ist aber ein Märchen; denn ein Weib wie Katharina ist nie über unsere gemeine Erde gegangen!“

„Nie? So, das glaubt Ihr?“ sagte Cilgia etwas verächtlich, und sie wandte sich zum Gehen.

„Einen Augenblick, Fräulein Premont,“ bat Paltram, der sich auch erhoben hatte. „Sagt mir eins – giebt es Frauen wie Katharina Dianti?“

Seine Stimme klang wie der Ruf nach einer Heilswahrheit.

„Ihr seid ein kleinmütiger Thor, Markus Paltram,“ warf sie zurück.

„Schaut mich nicht so verächtlich an,“ schrie er, „ich ertrage es nicht.“

Da hemmte sie ihren Schritt und sah ihn prüfend an.

„Markus Paltram,“ sagte sie langsam und ernst, doch nicht ohne aufblitzende Schalkhaftigkeit, „der bischöfliche Buchdrucker Paolo Vergerio steckte dem Engadin ein Licht auf, das über dem Volke steht und sein Leben verklärt wie das Berninalicht die Thäler und Seen. Seit seinen und Katharina Diantis Zeiten sind die Postille und die Chronik der Stolz jedes Engadinerhauses, und es lebt in diesen Bergen ein gebildetes Volk.“

„Was wollt Ihr, Fräulein Premont?“ und Markus Paltram stürzte in heißer Erregung auf sie zu.

„Ihr wißt so gut wie ich,“ fuhr sie fort, „die Ampel des Engadins ist am Erlöschen. Auswanderung überall. Das Leben flutet von unserm Thal zurück, und wer weiß: wo heute sich die blühenden Dörfer Pontresina, Samaden, St. Moritz – auch Euer Madulein erheben, werden in hundert Jahren vielleicht nur noch Ruinen sein, und es wird wie eine fromme Sage klingen, daß in diesem Thal einmal ein glückliches Volk gelebt hat.“

Er bebte. „Fräulein Premont!“

Und wieder sah sie ihn mit ihren großen, siegreichen Augen prüfend an.

„Markus Paltram – wenn einer aufstände und dem Engadin die Ampel des Lebens wieder füllte! Wenn er ihm das Licht herunterholte von der Spitze der Bernina! Da könnte er sicher sein, daß auch er eine Liebe fände wie Paolo Vergerio, Frauenliebe, nicht kleiner, als Katharina Dianti sie geübt hat – aber es braucht freilich mehr dazu als Gemsen jagen!“

Einen Blick, einen flammenden, wirft sie noch zurück und Cilgia Premont schreitet gegen das Abendrot, das groß und schön über den nördlichen Bergen steht, es ist, als wolle die herrliche Gestalt darin verschwinden.

„Cilgia Premont!“ – Berge und Thäler jauchzen ihren Namen – und Markus Paltram hat vergessen, daß er auf die Jagd gehen wollte.

„Wenn einer das Licht herunterholte von der Spitze der Bernina!“ – –

(Fortsetzung folgt.)     


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