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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Der Misurinasee.
Nach einer Studie von Alfred Enke.


als den Kampf zwischen dem alten Schwerenöter und der fröhlichen Nichte. Denn man sah es Gruber wohl an, daß er eigentlich nur zu befehlen gewohnt war, und sich verwunderte, wie ein so junges Mädchen mit ihm zu spielen und ihm zu widersprechen wagte, aber er war ganz vernarrt in sie.

Sie jedoch war in gründlicher Verlegenheit und mußte einen Mann, den sie zuerst in Mädchenübermut zu leicht gewogen, ernst nehmen.

„Zwingt mich nicht, Herr Gruber,“ und in ihren Augen blitzte es; „ich würde Euch und mir selbst zürnen, wenn ich Euch nachgäbe. Verderbt mir die Erinnerung an Euch nicht durch ein aufgedrängtes Geschenk.“

Dabei blieb’s – der stolze Gruber mußte Kettelchen und Medaillon wieder in seine Geldkatze stecken.

Er murrte und grollte, sie aber heftete ihm eine Nelke ins Knopfloch und der Pfarrer verging fast vor Wohlgefallen an den beiden.

„Herr Gruber, Ihr seid daheim gewiß ein ziemlich strenger Herr, aber Ihr seht, ich bin so ein loser Vogel, den man nicht an ein Kettchen legen kann.“

Sie sprach es so lustig, daß er lachen mußte, und ihr in die sonnigen Augen blickend, sagte er: „Ja, die habt Ihr noch wie zu Puschlav!“

„Haben wir uns zu Puschlav schon gesehen? Ihr kommt mir auch so bekannt vor,“ fragte sie neugierig und ernster.

„Ja, ich besuchte einmal auf der Durchreise Euern Vater, den Podesta. Ich habe Euch gut in der Erinnerung.“

„Das ist merkwürdig,“ sagte Cilgia mit schelmischem Erstaunen, „so ein dummes Kind wie ich damals war!“

„Eben das war’t Ihr nicht,“ lachte der Tiroler. „Ich kam vom Gasthaus, die Lampe brannte auf Euerm Tisch, der Herr Podesta las und Ihr schriebt lange Rechnungen auf dem Papier. Ihr war’t, während wir redeten, sehr ernst, sehr fleißig. ‚Cilgi, es ist Zeit, daß du zur Ruhe gehst,‘ sagte Euer Vater. Ihr legtet ihm das Papier hin, ein Gutenachtkuß, wir plauderten weiter und während des Gesprächs prüfte Euer Vater die Arbeit. Da strecktet Ihr nach einer Weile noch einmal den Kopf durch die Thüre: ‚Vater, stimmt’s?‘ – ‚Ja, ja, Kind, du hast ganz gut dividiert,‘ antwortete er, eine drollige Kußhand noch, und verschwunden war’t Ihr.“

„Wie Ihr aber das alles noch genau wißt!“

„Das ist kein Wunder, Cilgia. – Ihr kamt mir damals wie eine kleine Hexenmeisterin vor. Wißt, der alte Gruber setzt seine Hunderttausende im Jahr um, ohne daß er auf dem Papier rechnet. Aber gewaltigen Respekt hat er vor denen, die’s können!“

„Wer führt Euch denn die Bücher?“ fragte Cilgia.

„Das ist das ganze Buch,“ sagte Gruber und strich sich über die breite, hohe Stirn, die in eine leichte Glatze überging. „So lange es hält, ist es gut, aber nachher – ja, da kommen meine Buben nicht mehr draus. Den Wirrwarr möcht’ ich nicht mit erleben.“

„Ich behielte nicht so viel im Kopf,“ meinte Cilgia.

„Ihr habt halt anderes drin! In drei oder vier Sprachen wechselt Ihr die Unterhaltung wie unsereiner Hut und Pelzkappe – das habe ich damals an dem kleinen Jungferchen auch schon gesehen. Ich aber habe, wenn ich ins Italienische komme, Mühe, mit den Händlern das Dringendste zu parlieren. Es haut mir’s nicht.“

„Es ist nicht unser Verdienst,“ antwortete Cilgia fröhlich, „daß wir Bündner mit den Sprachen leidlich durch die Welt gehen, sondern Gottes Güte. Kennt Ihr die Geschichte?“

Halb scherzhaft, halb ernsthaft und mit glänzenden Augen erzählte ihm Cilgia das alte Märchen vom Engel, der in die Thäler Bündens die Samen aller Sprachen schüttete.

Der alte Lorenz Gruber sagte: „Haltet zu gut, Cilgia, für das Fabulieren habe ich den Sinn nicht; es mag ja wohl schön sein für die, die es verstehen – aber Rechnen und Sprachen schätze ich, weil man damit auf dem Markt leichter zu Gulden und Dublonen kommt.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 621. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0621.jpg&oldid=- (Version vom 24.6.2022)