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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Nun schlafen wohl beide im traulichen Stübchen,
Das holde Prinzeßchen, das herzige Bübchen …
Ach, Liebste, wie sind wir so reich, so reich!
Welch Glück auf der Erde kommt unserem gleich?“

Und der lieblichen Frau in dem weißen Gewand,
Die neben ihm sitzt in dem stattlichen Wagen,
Streichelt der Gatte kosend die Hand,
Und feuriger läßt er die Schimmel jagen.

Aber schweigsam steht sie, gedankenschwer,
Und lehnt ihren Kopf an des Liebsten Wange.

„Ich weiß nicht, wo kommt nur die Angst mir her?
Mir war schon den ganzen Tag so bange …“

Sie schaut in die Nacht, auf die Felder und Hügel.
Lautlos rollt, als trügen ihn Flügel,
Heimwärts der Wagen, der leichte, schnelle.
Jetzt, wo der Weg um die Berge biegt,
Kommt schon der See, der blinkende, helle,
Drin sich der Mond gespiegelt wiegt.

Da, was hält ihr die Augen, die stillen,
Plötzlich gebannt? – „Da, da, was schwebt
Drüben am Hügel? – Um Gotteswillen!
Sieh doch – sieh – das läuft ja – – das lebt!“

Eine Angst, ein Entsetzen durchfährt ihr die Glieder,
Da hält schon der Wagen, da springt sie nieder,
Und entgegen fliegt sie in ahnender Hast
Dem gefährdeten Kind – schon hat sie’s gefaßt –
Sie will schrei’n – doch in kaltem, eisigem Schrecken
In der Letzte bleibt ihr die Stimme stecken –

Zum Wasser hinunter kaum zwanzig Schritte,
Und wie schnell wär’s gescheh’n, das entsetzliche Weh!

Kaum hört sie des Kindes stammelnde Bitte:
„Küsse mich, küsse mich, Mondscheinfee!“

Wortlos hält sie den Liebling im Arm –
Da wird ihm das Herz so wohlig und warm,
Er wacht nicht, er träumt, – seine Augen sind schwer, –
Wer ihn hält, wer ihn trägt, er sieht es nicht mehr,
So unendlich wohl, so unendlich weich
Schläft er ein wie die Engel im Himmelreich. …

Und der Vater, noch kann er das Wunder nicht fassen,
Stumm steht er, von Schreck und von Freude bewegt;
Er fühlt, wie das Herz ihm hämmert und schlägt,
Von dem Kinde nicht mag er die Augen lassen.
Den Schlafenden küßt er mit wortlosem Munde,
Stumm drückt er dem Weibe zärtlich die Hand.
Sie aber, zum Himmel den Blick gewandt,
Betet zu Gott in der ernstesten Stunde,
Die sie im Leben je gekannt …
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Doch das Bübchen – das schläft auch zu Hause noch fest,
Und sie bettet es weich in ihr eigenes Nest,
Legt sich sacht ihm zur Seite in schweigender Lust,
Läßt den Liebling ruhn an der Mutterbrust.

Weiß webt es von Mondlicht im traulichen Zimmer,
Weiß leuchten die Linnen wie blumiger Schnee …

Und er träumt: er schläft unter Pracht und Schimmer
In den liebenden Armen der Mondscheinfee.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0615.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)