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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

eine „Fechtschule“; wer aber 200 Jahreskarten untergebracht hatte, empfing die Würde eines „Oberfechtmeisters“, und so konnte er, je nach seinen Leistungen für den Verein, emporsteigen zum „Hauptfechtmeister“ und „Generalfechtmeister“, bis ihm endlich im „Fechtrat“ die höchste Würde erblühte – nicht zu reden von den geschmackvollen lustigen Orden und Ehrenzeichen, die dem eifrigen Fechter verlockend winkten. Mag mancher Unkundige sich eines Lächelns über solche Scherze nicht erwehren können – thatsächlich war bald ganz Deutschland übersät von Zweigverbänden der Deutschen Reichsfechtschule, und innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren konnten 46 000 Mark nach Lahr abgeliefert werden; die Gründung des ersten Waisenhauses war damit gesichert. Aber noch immer flossen, wie aus verborgenen Quellen, die Beiträge von allen Seiten so reichlich, daß man sich entschließen durfte, den beabsichtigten Zweck zu erweitern und noch zwei weitere Waisenhäuser zu errichten; auch hierzu genügte ein kurzer Zeitraum – schon im Jahre 1885 konnten die drei Reichswaisenhäuser in Lahr, Magdeburg und Schwabach eröffnet werden.

Da schwiegen die Zweifler, die vorher achselzuckend gefragt hatten, ob die Spielerei der Deutschen Reichsfechtschule wohl deutscher Männer würdig sei; da wurde es ihnen klar, daß sich eine nationale That vor ihren Augen vollzogen hatte, ja daß die Kräfte, die sich stark genug erwiesen hatten, so bedeutende Summen groschenweise zusammenzubringen und Cigarrenspitzen, Cigarrenbänder, Flaschenkapseln, Staniol und sonstige scheinbar wertlose Abfälle in Stein und Kalk umzusetzen, um daraus drei Denkmäler deutscher Liebesthätigkeit zu errichten, nicht einer Laune entsprungen sein konnten, sondern daß sich in solchen Erfolgen eine tiefgehende Volksbewegung offenbarte als Spiegelbild deutschnationalen Empfindens. Heute, nachdem am 16. Juli 1899 auch das vierte Reichswaisenhaus in Salzwedel feierlich eingeweiht worden ist, wird niemand mehr bezweifeln, daß die Deutsche Reichsfechtschule in ihrem Ursprung und Fortgang durchaus ernsthaft zu nehmen ist als eine Kraft im Volke, und daß sie nicht nur die humanitäre und sociale Bedeutung eines segensreich wirkenden Wohlthätigkeitsunternehmens beanspruchen kann, sondern auch als ein beachtenswerter Faktor im deutschnationalen Leben der Gegenwart und Zukunft gelten darf.

Würdig wie ihr Werden und Wachsen ist auch ihr Wirken in der Gegenwart. In Magdeburg, wo die Wiege des Vereins stand, laufen auch heute noch die Fäden zusammen, mit denen ein wohldurchdachtes System das weitverzweigte Gebilde umsponnen hat. Hier versammeln sich alljährlich die Abgesandten der über ganz Deutschland verbreiteten Zweigverbände, um für den verflossenen Zeitraum Rechenschaft zu fordern und in ernster Beratung den von der „Oberfechtschule“ aufgestellten Haushaltsplan für das nächste Jahr festzustellen, der beispielsweise für das Magdeburger Haus in Einnahme und Ausgabe mit 15000 Mark abschließt; das gesamte Sammelergebnis eines Jahres beträgt etwa 70000 Mark. Unter der Oberhoheit dieser Hauptversammlung vollzieht sich die dem staatlichen Organismus trefflich nachgebildete Verwaltung mit einer Sicherheit, daß man nicht weiß, was man mehr bewundern soll, die Geschicklichkeit, mit der so viele Köpfe unter einen Hut gebracht werden, oder die Uneigennützigkeit der Männer, die jahrein, jahraus in den zum Teil sehr umfangreichen Verbänden die Mühe und Last ihrer Aemter ohne jede Entschädigung und ohne Aussicht auf irgend eine äußere Anerkennung willig tragen. Die Worte, welche der Verfasser dieser Zeilen einstmals von dem Magdeburger Reichswaisenhause schrieb, gelten sinngemäß für das Gesamtgebiet der Deutschen Reichsfechtschule: Kein König hat es protegiert, kein Fürst die Schatulle zu seinen Gunsten geöffnet, kein Millionär den Säckel dazu aufgethan, kein Reiseprediger hat Beiträge dafür gesammelt – jeder Stein hat einen anderen Geber. Das Scherflein der Witwe, der Groschen des armen Mannes, die Beiträge derer, die nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet sind, haben jene Mauern errichtet, und nun klingt in des Hauses Festraum aus fröhlichen Kinderkehlen: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.

Fröhliche Geber waren die Gründer der Deutschen Reichsfechtschule, in fröhlichen Kreisen hat sie ihre Förderer gefunden – Frohsinn und ungebundene Jugendlust sind auch das Kennzeichen der Kinderschar, die unter der treuen Obhut erprobter Hauseltern in den Reichswaisenhäusern aufwächst. Man kann diese Heimstätten mit Fug und Recht als Musteranstalten bezeichnen, nicht allein nach ihrer inneren Einrichtung, sondern vor allem nach der Art der in ihnen herrschenden Erziehungsmethode. Es sind Heimstätten, wo Verwaiste wohnen und erzogen werden, ohne sich als Almosenempfänger zu fühlen, ohne von der Welt abgeschlossen zu sein. Die Kinder besuchen mit ihren Altersgenossen die öffentlichen Schulen und Gottesdienste; unter Aufsicht eines geprüften Lehrers machen sie ihre Schularbeiten, in glücklichem Jugendübermut tummeln sie sich auf dem weiten Turn- und Spielplatze umher oder stärken den Körper bei gesunder Arbeit im Obstgarten und auf dem Ackerfelde. Die große Symphonie der Weltschöpfung mit dem Waldesrauschen und dem Säuseln im Korn, der helle Lerchenjubel und das stumme Mene Tekel der untergehenden Sonne, der Abendzauber und der Gruß des erwachenden Morgens, das alles sind Eindrücke, die schon frühe ihre kindliche Seele füllen und die sonst im gewöhnlichen Leben selbst bei zärtlichster Elternfürsorge den Kindern der Städte nur unter besonders günstigen Umständen geboten werden.

So wachsen die Zöglinge unter strenger, aber liebevoller Leitung heran zu geistig und körperlich gesunden Knaben und Mädchen, erfüllt mit Liebe zu den Menschen, die ihnen Gutes gethan haben, mit Achtung vor der Obrigkeit und mit Ehrfurcht vor der hohen Macht, die über ihnen waltet; denn daß ihnen neben dem „Heil Dir im Siegerkranz“ auch das „Lobe den Herrn“ kein fremder Klang ist, bedarf kaum der Erwähnung. Nach erfolgter Konfirmation aber werden sie tüchtigen Handwerksmeistern oder zuverlässigen Haushaltungen als Lehrlinge und Dienstboten übergeben, und die Erfahrung hat gezeigt, daß sie sich im Leben bewähren.

Nach der bisherigen Entwicklung der Deutschen Reichsfechtschule ist mit Sicherheit zu erwarten, daß sie unter fernerer Mitarbeit der weitesten Kreise unseres Volkes dereinst ihr Ziel erreichen wird: in allen Teilen des deutschen Vaterlandes, insbesondere auch in den östlichen Provinzen, ihre Heimstätten zu errichten als Stützpunkte deutscher Gesinnung und staatserhaltender Bürgertugend.


In Straßburg vor hundert Jahren.

Von Dr. Emil Rechert.

Das Straßburger Münster.

Unlängst hat Graf Friedrich Schönborn, der frühere österreichische Justizminister, in einem lesenswerten Aufsatz das Loblied alter Baukunst gesungen und sehr richtig bemerkt, daß die kleinen Gegenstände heute vor Vernichtung weit besser gesichert sind als große Bauwerke älterer Zeit. „Alte Gläser, Hausschlüssel, Tische deshalb sammeln, weil sie alt sind, und die alten Häuser, aus denen diese Dinge stammen, zerstören, ebenfalls weil sie alt sind – das ist ein Vorgang, dessen Wiederholung wir täglich beobachten können. Werden unsere Nachkommen den Widerspruch verstehen?“

Ich glaube, sie werden ihn verstehen. Unsere Nachkommen werden noch weit mehr praktische, nüchtern denkende Leute sein als wir und es vollständig billigen, daß der Weg rastlosen Fortschrittes auch über die stolzesten Trümmer der Vergangenheit geht. Uns blutet ja doch wenigstens noch das Herz, wenn solch ein alter Bau dem Drachengebiß der Zeit zum Opfer fällt. Denn wir lieben die malerischen Reste städtischer Vergangenheit, die engen Gassen und stillen Plätze, wo die alte Physiognomie unserer Stadt uns mit all ihren liebgewordenen Runzeln ansieht. Wenn auch das Neue, das überall aus dem Boden emporwächst, stattlich und glänzend ist, so hat es sich doch noch nicht an unsere Herzen anwachsen können. Um so eher mag es freundlichem Interesse begegnen, wenn wir im folgenden in knappen Zügen ein Bild aus städtischer Vergangenheit – vor hundert Jahren – zu entwerfen versuchen.

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Manches war damals schon so wie heute oder richtiger: manches ist heute noch so wie damals. Kommunale Schmerzen scheinen noch älter als der Weltschmerz zu sein. Die tröstliche Gewißheit, daß die Durchführung städtischer Projekte in der guten alten Zeit doch noch etwas länger als heutigestages währte, giebt uns die Geschichte Straßburgs. Seit dem Jahre 1663 hat eine wohldenkende Bürgerschaft die nächtliche Straßenbeleuchtung geplant, aber erst 1779 kommt das große Werk zur Ausführung. Von nun an wird die genaue Stunde des Anzündens und Auslöschens als eine Thatsache von Bedeutung ständig im Wochenblatte bekannt gegeben, mit der Bitte: „Wann einige Laternen später angezunden würden oder früher auslöschten als hier angezeigt, oder auch etwas dunkel brennen sollten, so ersucht man diejenigen, welche solches wahrgenommen, Nachricht davon zu geben, nebst Anzeige der Nummer solcher vernachlässigter Laternen“. Aber das Unternehmen hat, da eine Mehrbelastung des Säckels die Folge ist, eine Partei gegen sich, welche, eine gemeinderätliche Opposition, ihr Mißvergnügen sogar in gebundener

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0608.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)