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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

gelbweißes Gewand. Dann trat sie an den Busch, in dem Julius’ Hut hing, warf ihren Schleier ab – sie mußte ihn erst aus dem Mantel lösen – und drückte sich den Hut auf das üppige Haar. „Braun,“ murmelte sie. „Man könnte darin aussehn wie ’ne Pilgerin; – das war ich noch nie. – Pilgerin auf der Bußfahrt –“

Sie flüsterte in sich hinein: „Die nicht ruht, bis sie ihr frommes Ziel – –“

Mit einer ihrer jugendlich raschen Bewegungen trat sie wieder vor Luise hin und legte ihr die Arme um die Hüften, indem sie die Hände hinter ihr zusammenschloß. „Willst du mitgehn?“ fragte sie. „Willst du mich begleiten?“

Das Mädchen wußte noch nicht: verstand sie die Mutter recht? Es war aber ein so eigener Glanz in deren Augen … „Gewiß!“ sagte sie für jeden Fall.

„Aber weit, weit!“ – Clotilde deutete auf den Mond. „Was thut das; die Nacht ist hell!“

„Mutter!“ flüsterte Luise; nun zweifelte sie nicht mehr. Sie hätte beinah gelacht vor Glück. Ihre Arme, ihre Hände zitterten vor Freude.

„Aber – wir zwei allein?“ sagte sie dann leise; es rührte sich die väterliche Bedächtigkeit. „Diesen weiten Weg? bei Nacht?“

„So hell.“

„Aber doch nur zwei Frauenzimmer. – Vater wär’s nicht lieb …“

Clotilde kämpfte ein wenig; das Absonderliche, Romantische hatte sie gelockt. „Friedrich!“ sagte sie dann.

„Gnädige Frau?“

„Sie sind nun wohl sehr müde, Friedrich?“

Er begriff, um was es sich handelte; ein Freudelächeln huschte über sein Gesicht. Gleich sah er aber wieder nach gar nichts aus. „Ach ne, gnädige Frau,“ antwortete er mit seinem trockenen, verschlossenen Ernst. „Ich hab’ mich ja auf Ihren Befehl ausgeruht.“

„Haben Sie das wirklich gethan?“

„O ja.“

„Lange?“

„Sehr lange nicht, das müßt’ ich lügen; aber doch lang’ genug.“

„Wenn Sie nun aber tüchtig marschieren sollten?“

„Wär’ mir grade recht. Nur im Stillsitzen schlaf’ ich ein. – Die Luft ist so gut.“

„Ich thu’ Ihnen auch einmal was zuliebe, Friedrich! – Sie gehn also ins Haus und holen Ihren Hut; und Hut und Mäntelchen für Luise; aber ohne daß man’s merkt. Und dann geben Sie diesen Zettel an Heinrich … Ja so, ich hab’ nichts bei mir.“

„Ich immer, gnädige Frau!“

Friedrich zog ein kleines Taschenbuch aus der Brusttasche und riß ein Blatt heraus. Clotilde nahm es und schrieb ein paar Worte, auf Luisens Rücken. „Hätten Sie auch ein kleines Couvert?“ fragte sie.

Er nickte, er hatte schon eins aus derselben Tasche hervorgeholt. Er führte Bindfaden bei sich, Oblaten, Briefmarken, Heftpflaster, alles. Das beschriebene Blatt übernehmend, faltete er es, steckte es in den Umschlag und leckte ihn zu. „Also an Heinrich geben!“ sagte Clotilde noch einmal. „Er soll das Billet eine halbe Stunde behalten; dann soll er es an Frau Morland geben. Es sei eine Ueberraschung.“

„Versteh’ schon. Werd’s schon machen.“

„Sie treffen uns dann bei der Gartenthür.“

Friedrich nickte und ging. – Clotilde legte sich eine Hand auf die Brust. Ihr war zu Mut, wie wohl noch nie.

„So, nun komm!“ sagte sie leise.

Luise trat zu ihr. „Die werden sich wohl wundern,“ sagte sie ebenso, nach dem Haus zu blickend.

„Die mögen dann weiter wetten. – Ich hab’ meinen Weg. Ich mit meinem Kind!“

(Schluß folgt.)     


— Neue Gedichte von Anna Ritter. —


 Meine Kinder.
Weit im Land, auf fremden Wegen,
Hallen meiner Kinder Schritte,
Und ich möchte lauter Rosen
Vor die kleinen Füße legen.

Nur im Herzen darf ich hegen,
Was mir Wonne schafft und Sorgen,
Doch ein Gruß ist all mein Denken,
Jeder Atemzug ein Segen.


Zwischen Erde und Himmel.
Nun steigt aus blauen Tiefen
Manch güldner Stern herauf,
Und die am Tage schliefen,
Die Wünsche, wachen auf.

In bangen Dunkelheiten
Uebt jedes seine Macht –
Ach, Erd’ und Himmel streiten
Sich um mein Herz zur Nacht.


Die Reichswaisenhäuser.

Von Johannes Freudenberg.

Sechzehn Jahre sind ins Land gegangen, seitdem die „Gartenlaube“ in einem Artikel „Das deutsche Reichswaisenhaus zu Lahr“ die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein noch in den Kinderschuhen steckendes Wohlthätigkeitsunternehmen lenkte und ihm eine gesegnete Entwicklung verhieß. Damals hat wohl kaum einer geahnt, daß aus jenen schwachen Anfängen die vielbewunderte und vielbespöttelte Vereinigung hervorgehen sollte, die sich heute eines Sammelergebnisses von 1½ Millionen Mark rühmen und vier reich ausgestattete Waisenhäuser ihr eigen nennen darf; wir meinen die „Deutsche Reichsfechtschule“ mit ihren zahlreichen Zweigverbänden wie Köln, München, Frankfurt a. M. („Waisenfreund“), Kassel („Waisenschutz“), Berlin („Waisenhort“), Charlottenburg („Waisenfreund“) u. a.

Tausendfältige Frucht hat das unscheinbare Samenkorn getragen, das Albert Bürklin in Gemeinschaft mit dem Herausgeber des Lahrer „Hinkenden Boten“, Moritz Schauenburg, in die Seele unseres Volkes senkte, als er im Jahre 1876 die Anregung gab, abgeschnittene Cigarrenspitzen zu sammeln und an Tabakfabriken zu verkaufen, um aus dem Erlös ein Waisenhaus zu erbauen. War es auch dem weitschauenden Blick und dem Organisationstalent eines anderen Menschenfreundes vorbehalten, dem Werke zur Vollendung zu verhelfen, so gebührt doch jenen beiden Männern ein ehrendes Gedenken schon um deswillen, weil sie zuerst das rechte Wort gefunden haben, um Herzen zu erwärmen und Hände willig zu machen für die deutschen Waisen. Das kleine Waisenmädchen, das seinen grausamen Pflegeeltern entläuft, und mit einigen kalten Kartoffeln in der Tasche den meilenweiten Weg nach Lahr zu Fuß zurücklegt, um den Mann aufzusuchen, der den Waisen ein Vater sein will, – der edle Greis, der das halberstarrte Kind vor der Thür seines Häuschens findet und es mit liebevoller Sorgfalt pflegt: das waren lebenswahre und für das Waisenelend typische Gestalten, die ihre Wirkung auf das Volksgemüt nicht verfehlen konnten. Die zwingende Gewalt jener schmucklosen Darstellung war es, die den elternlosen Kindern einen Helfer erweckte in der Person des Generalagenten Heinrich Radermann in Magdeburg.

Auf seine Anregung entstand 1881 zur Unterstützung des Lahrer Unternehmens ein Verein, der sich die Aufgabe stellte, unter dem Motto:

„Viele Wenig machen ein Viel,
Vereinte Kräfte führen zum Ziel“

in fröhlichem Kreise wacker zu fechten, d. h. zu betteln für die deutschen Waisen. Der praktische „Fechtvater“ hatte den glücklichen Einfall, die neue Vereinigung – ihr Anfangskapital betrug 9 Mark 82 Pfennig – auf humoristischer Grundlage aufzubauen. Für einen jährlichen Beitrag von 30 Pfennig konnte man die Mitgliedschaft der „Deutschen Reichsfechtschule“, wie er sie nannte, erwerben. Wer ihr 20 Mitglieder zugeführt hatte, durfte sich „Fechtmeister“ nennen und gründete damit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0607.jpg&oldid=- (Version vom 24.12.2022)