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Inseln angesiedelt, aber nur während des Winters bevölkert sind. Gegen 30000 Fischer kommen zu dieser Jahreszeit in ihren großen Ruderbooten hingefahren, und der Landhändler, der den Sommer über ein ruhiges Leben führt, hat alle Hände voll zu thun: er verkauft Angelschnüre und vermittelt Wohnungen, ist gleichzeitig Postbeamter und Gastwirt. Eine Armee von Telegraphistinnen ist über die Inseln ausgebreitet, um mitzuteilen, wo der Dorsch aufgetreten ist, wie hoch er im Kurs steht, und alle Bedürfnisse für eine solche Menschenmasse eiligst zu beschaffen.“ Man sollte es kaum für möglich halten, daß dieses Leben und Treiben sich in Gegenden abspielt, die dem Nordpol hundert Meilen näher liegen als viele vereiste Regionen Amerikas und Nordasiens.

Diese überaus großen klimatischen Vorzüge verdankt Nordwesteuropa aber nicht lediglich dem Atlantischen Ocean als solchem, denn dieser bespült auch Labrador und Grönlands Küsten, sondern der eigentümlichen Cirkulation des Wassers in demselben und den Winden, die darüber wehen. Die ganze nordwestliche Küste Europas wird von einer mächtigen Strömung warmen Wassers bespült, die von der amerikanischen Seite her zwischen 40° und 50° nördlicher Breite den Atlantischen Ocean durchquert und zwischen dem Nordkap und Spitzbergen sich im Eismeer verliert. Ueber dieser Strömung im Wassermeere herrscht eine ähnliche im Luftmeere vor, die sich in warmen und feuchten Südwestwinden ausspricht, ja, diese Südwestwinde haben einen entscheidenden Anteil an dem Bestande der Warmwasserströmung im Meere. So genießt denn das nordwestliche Europa den Vorzug einer ungeheuren, natürlichen Luft- und Warmwasserheizung, die niemals aussetzt, und die Wärme, welche die Sonne über dem Atlantischen Ocean in der heißen Zone dem Meere und der Luft spendet, kommt ganz West- und Nordwesteuropa während des Winters zu gute. Ein Teil des warmen Wassers, welches Europas Küste umspült, entstammt dem sogenannten Golfstrom, der zwischen Cuba und der Halbinsel Florida aus dem Mexikanischen Meerbusen strömt. Früher glaubte man, daß sogar ausschließlich diese Wasser es seien, welche die europäische Nordwestküste erwärmten; allein die neuesten Untersuchungen haben gezeigt, daß eine weit bedeutendere Warmwasserströmung östlich von den westindischen Inseln sich mit dem Golfstrom vereinigt und beide Strömungen zusammen den Weg über den Atlantischen Ocean nach Europa nehmen. Die Luft über dieser in mächtiger Breite, wenngleich langsam fließenden Warmwasserschicht, strömt vorwaltend aus Südwest und bringt gleichfalls die Wärme der südlichen Regionen nach Nordosten, verbreitet sie also über ganz West- und Nordwesteuropa. Die Luft- und Meeresströmungen begünstigen demnach vereinigt unseren Erdteil und gewähren ihm klimatische Vorzüge, welche demselben nach seiner hohen nördlichen Lage allein nicht zukommen.

Indem nun aber Luft und Wasser von der europäischen Seite des Atlantischen Oceans gegen das nördliche Polarbecken hinströmen, wird notwendig auch ein Abströmen aus demselben stattfinden, da das Gleichgewicht der Meeresoberfläche und der Atmosphäre erhalten bleiben muß. Dieses Abströmen findet in der That statt, und zwar längs der amerikanischen Seite des Oceans. Betrachten wir allein die Strömung im Meere, so finden wir, daß aus den höchsten nördlichen Breiten eine ununterbrochene Drift stattfindet, welche Eisberge von gewaltiger Zahl zwischen Grönland und Spitzbergen und weiterhin zwischen Grönland und Island gegen die Labradorküste hinführt. Diese Eisdrift wird verstärkt durch eine andere, aus der Baffinsbai kommende und beide vereinigt, strömen auf die Bank von Neufundland zu, wo sie in Konflikt mit dem warmen Golfstrom geraten und unter diesen hinabsinken.

In den warmen Fluten schmelzen die riesigen Eisberge, welche der kalte Polarstrom mitbrachte, mit großer Schnelligkeit, ja sie explodieren förmlich, wobei die Schutt- und Gesteinsmassen, welche sie trugen, auf den Meeresboden fallen. Besonders im Spätfrühling und zu Anfang des Sommers ist die Zahl der Eisberge in der Nähe der großen Bank von Neufundland sehr beträchtlich, im Herbst nimmt sie ab und zur Winterszeit fehlen sie fast gänzlich, denn nunmehr ruht weiter oben alles in den Banden des grimmigsten Frostes. Die Schutt- und Gesteinsmassen, welche beim Schmelzen der Eisberge in der Höhe von Neufundland auf den Meeresboden fallen, sind es auch, welche im Laufe der Jahrtausende dort die unterseeischen Bänke gebildet haben. Nach Verlauf von unzähligen weiteren Jahrtausenden werden diese Bänke zuletzt als Klippen über den Meeresspiegel emporragen und der warme Golfstrom sowohl, als der die Eisberge bringende Polarstrom werden dann gezwungen sein, ihren Weg weiter ostwärts im Atlantischen Ocean zu nehmen.

Mit dem kalten Polarstrome kommen in jedem Frühjahre Walrosse und Eisbären bis zu den Küsten Neufundlands, also bis in Gegenden, die unter denselben Breitengraden liegen wie Paris oder Dresden. An der europäischen Küste, selbst im hohen Norden, sind dagegen Besuche von Eisbären unerhört. Wohl tummelt sich dieser Tiger des Nordens überall im Eismeer, wo Schollen schwimmen, aber niemals hat er noch die skandinavische Nordküste betreten, weil die warmen Fluten des Golfstromes diese umhüllen, und auch die großen Wale scheuen vor diesen wie vor einem Feuermeere zurück.

Die allgemeine Bedeutung des Golfstroms für das Klima Europas, besonders aber seine entscheidende Einwirkung auf die Milderung der Winterkälte in dem ganzen westlichen und nordwestlichen Teile unseres Erdteiles ist schon in den Zeiten von Humboldt und Dove deutlich erkannt worden. Eine andere Frage aber ist die, ob Veränderungen in der Laufrichtung, Ausbreitung und Temperatur dieser warmen Meeresströmung sich in den Witterungsverhältnissen unserer Gegenden deutlich kundgeben. In kühlen, nassen Sommern geht die Meinung des Publikums häufig dahin, es seien besonders viele und große Eismassen aus dem Polarmeere südwärts vorgedrungen und hätten die Wasserwärme des Atlantischen Oceans vermindert, wodurch dann weiter die Lufttemperatur in unseren Gegenden ungünstig beeinflußt worden sei. Diese Vorstellung ist in jedem Fall irrig. Denn wenn die größere Menge der Eisberge, welche die Polarströmung aus dem Norden herabbringt, die Lufttemperatur über Europa in gewissen Sommern verminderte, so würde dies in weit höherem Maße auch für Nordamerika der Fall sein müssen, während festgestellt ist, daß gerade kühle Sommer und warme Winter in Europa mit heißen Sommern und strengen Wintern in Nordamerika fast immer gleichzeitig auftreten. Dagegen kann man wohl die Frage aufwerfen, ob der Golfstrom und seine Ausläufer längs der europäischen Küsten zur gleichen Jahreszeit stets den gleichen Wärmevorrat enthalten, oder ob Schwankungen in der Wasserwärme stattfinden und diese Schwankungen sich in den Witterungsverhältnissen Nordwesteuropas bemerkbar machen.

Diese Frage ist in neuester Zeit von dem schwedischen Meteorologen Pettersson studiert worden und hat zu interessanten Ergebnissen geführt. Er untersuchte nämlich die Wärmeverteilung in den wärmeren Gebieten des Atlantischen Oceans gemäß den Beobachtungen an fünf Stationen, von denen zwei auf Island und die drei anderen auf den Faröern, Shetland und an der norwegischen Küste liegen. An jeder dieser Stationen sind während eines Zeitraums von 22 Jahren ununterbrochen Beobachtungen angestellt worden. Während dieses Zeitraumes war das Jahr 1888 im nordwestlichen Europa ungewöhnlich kalt, der Winter 1890 war dagegen außerordentlich mild. Es ergab sich nun bei Prüfung der Temperaturbeobachtungen der Meeresoberfläche, daß das Wasser des ganzen östlichen Hauptzweiges des Atlantischen Stromes im Jahre 1888 beträchtlich kälter als gewöhnlich war, im Winter 1890 dagegen erheblich wärmer, während der westliche Teil desselben 1888 wärmer, im Winter 1890 dagegen kälter erschien. Daraus folgt, daß der wärmere Teil des Golfstromes, sozusagen die Wärmeachse desselben, in gewissen Jahren bald näher, bald entfernter von der europäischen Küste verläuft, und zwar lag er näher der amerikanischen Seite während der Periode, da es in Nordwesteuropa kälter als gewöhnlich war. Daraus ersieht man auch, daß die Meinung, diese größere Kälte sei durch das Auftreten ungewöhnlich zahlreicher Eisberge bei Island verursacht, falsch ist, denn gerade damals trat der warme Wasserstrom in größerer Intensität in der Nähe von Island auf. Pettersson fand überhaupt, daß die Schwankungen des Golfstroms in seiner Richtung und Stärke mit dem Eintreffen von kalten und warmen Wintern in Nordeuropa zusammenfallen. Er untersuchte ferner die Temperatur der Nordsee im Februar 1894

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0595.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)