Seite:Die Gartenlaube (1899) 0591.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

von Puschlav und Paltram, der Camogasker! – Wie kommen denn die zusammen?“

Der Augenblick hat genügt, daß sich die jungen Freunde schützend um Cilgia sammelten. Lorsa scheint nicht übel Lust zu haben, seinerseits die Feindseligkeiten zu eröffnen, und eine Stimme ruft: „Das ist ja klar, die Herrenbuben helfen dem Herrenkind!“ Viele, die im Kreis herumstehen, wissen auch nicht, worum es sich handelt, sie sind wütend, daß die Landsgemeinde mit einem Streit geschändet werden soll, und machen sich ihrerseits bereit, über den ersten herzufallen, der einen Streich führt.

So steht Cilgia eine lange, bange Minute vor hundert Augen, Paltram, wie einen blutdürstigen Tiger, den man zähmen will, an der Hand.

Und überraschend – er folgt dem leichten, zitternden Spiel ihrer Hand und verbeißt seine schäumende Wut.

„Der Landammann. – Der Landammann!“ – Vor dem alten, achtunggebietenden Herrn legt sich die Bewegung. „Narrheiten, ihr Leute – he, Musik, noch einen schönen Tanz – jawohl – jawohl, an einer Landsgemeinde streiten wollen! – Ihr aber, Fräulein, und Ihr, Paltram, folgt mir!“

Die Musik spielt.

Die Haudererleute haben die allgemeine Verwirrung benutzt, um sich zu flüchten; aber Pejder Golzi ist zurückgebracht worden zu einem Verhör im Plantahaus, wo bereits der Landammann mit den Gerichtsherren, Cilgia und Paltram sitzen. – Auf die Frage des Landammanns begann nun der halb scheue, halb freche Mann zu erzählen:

„Wir flicken in Strada bei Martinsbruck, wo wir daheim sind, allerlei Lederzeug für die Soldaten und horchen auf die Schlacht. Wir haben den ganzen Tag noch keine Soldaten gesehen, da brechen plötzlich jenseit des Inns fünf Tiroler hervor – stutzen – einer wirft sich in den Inn, die andern ihm nach, ein Dutzend Franzosen kommen auch aus dem Wald, schießen auf die Schwimmenden und alle versinken vor unserm Blick. – So meinen wir wenigstens. Und die Franzosen sind wieder fort. Da bellt der Hund so stark. Wir schauen nach – ein Tiroler liegt unterhalb des Dörfchens am Ufer. Er stöhnt: „Rettet mich – mein Vater, der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal, wird es euch vergelten.“

„Der reiche Lorenz Gruber aus dem Suldenthal?“ – Der Landammann und die Gerichtsherren spitzen bei diesem Namen die Ohren und schwatzen leise.

Der Hauderer aber fährt hastig fort: „Gewiß haben wir ihn nicht wegen dem Geld, das er aus der Tasche klaubt, auf den Wagen genommen, nein, weil mir mein Weib mit viel Worten von christlicher Barmherzigkeit den Kopf vollgemacht hat. Unter den Kindern haben wir ihn versteckt und sind bis nach Fetan gekommen, der Weg und die Angst haben uns aber so müde gemacht, daß wir ihn dort abgeladen haben. Das weiß die da.“

Damit zeigte der Kuhglockengießer auf Cilgia und fragte mit verdächtiger Demut: „Darf ich jetzt wieder gehen?“

„Das drängt nicht,“ versetzte der Landammann trocken.

Cilgia sitzt in glühender Scham auf ihrem Stuhl vor den Herren und fühlt den Blick des Pfarrers, der wie sich wärmend am kalten Ofen steht, in Vorwurf, in großer Sorge und herzlicher Teilnahme auf sich gerichtet.

Er weiß von Melcher aus wohl schon alles.

Die Gerichtsherren reden leise zusammen; es scheint Cilgia, als habe der Name Lorenz Gruber der Geschichte ein neues Gesicht gegeben, sie aber denkt mit heimlichem Verdruß: Jetzt ist der Geborgene nicht einmal ein Armer! Neben ihr steht mit zusammengezogenen Brauen Markus Paltram.

Da pocht es; auf das „Herein“ des Landammanns tritt sein Gegner, der Großviehhändler Melcher, ein frischer Vierziger, in den Saal und spricht:

„Ich glaube, ich kann den Herren, die hier sitzen, eine Sorge abnehmen. Als mir mein Töchterchen Menja erzählte, was vorgefallen ist, war ich eben mit meinem Freund Casparis von Thusis, den wir alle als einen zuverlässigen Mann kennen, in der ‚Krone‘. Er berichtet, daß gestern morgen der französische Gesandte abgereist ist. Er hat ihn selber mit drei Fuhrwerken Kisten und Schachteln fortfahren sehen. Und seine Stelle wird vorläufig nicht wieder besetzt, da sie mit dem Abzug Lecourbes ihre Wichtigkeit für die französische Regierung verloren hat.“

„Wir danken Euch, Melcher,“ sagt der Landammann kühl und höflich, „die Mitteilung ist wertvoll. Wir brauchen uns jetzt mit der Angelegenheit amtlich nicht weiter zu befassen, denn wo voraussichtlich kein Kläger ist, ist kein Richter.“ Und zu Pejder Golzi: „So, jetzt könnt Ihr gehen.“

Da flüchtete sich der Hauderer über Kopf und Hals.

Den Gerichtsherren aber sah man es wohl an, wie ihnen mit dem Bericht Melchers ein Stein vom Herzen gefallen war. Man war aus der furchtbaren Zwangslage befreit, eigene Angehörige, die man im innersten Selbst nicht verurteilte, unter dem Druck einer fremden Macht zur Rechenschaft zu ziehen, ja einen gewissen vorgreifenden Eifer zu heucheln, damit nicht das ganze Thal wegen Neutralitätsbruch in empfindliche Strafe gerate.

Cilgia Premont und Markus Paltram wurden in Gnaden, ja mit bewunderndem Lächeln entlassen.

Die Frühlingsdämmerung war eingebrochen und das Volk wandte sich, als es noch rasch den befriedigenden Ausgang des Vorfalls gehört, seinen Heimatsorten zu. – Die Namen Cilgia Premonts und Markus Paltrams liefen, zusammengekettet durch das Ruhmgeschmeide einer kühnen That, mit den Heimkehrenden auf den Straßen des Oberengadins. – –

Im Schein der Frühlingssterne, die über den Scheitel der blaßschimmernden Bernina zogen, ritt Pfarrer Taß mit seiner Nichte heimwärts. Es wollte ihn kränken, daß ihn Cilgia nicht gleich bei ihrer Ankunft ins Vertrauen gezogen hatte, aber es war mit dem Mädchen nichts anzufangen. Auch zwang ihn die Kraft, mit der sie geschwiegen hatte, zu großer Achtung vor ihr: sie war doch eine echte Bündnernatur – eine von den Frauen, die stehen und schweigen können wie der Fels des Hochgebirges!

Sie hatte ein Erlebnis, eine That hinter sich!

Und der sonst so stillfröhliche Pfarrer Taß seufzte. – Sein eigenes ruhiges Leben kam ihm wie ein langer Traumwandel vor.

Er suchte im Reiten Cilgias Gesicht zu erkennen, aber er sah in der Dunkelheit nur unsichere Umrisse.

In seinem einsamen Leben war die frische Gestalt ein später Sonnenstrahl, und doch fühlte er ihr rotblütiges, heißes Wesen auch wie eine Bürde der Sorge. Gehen so hoffnungsreiche Menschenkinder nicht den härtesten Weg und brechen sie sich, nachdem sie alle Hindernisse überstiegen, zuletzt nicht doch die Flügel?

In der Ferne ertönten die Freudenjauchzer heimkehrender Bursche.

Da fand auch der Pfarrer seinen herzlichen heitern Ton wieder:

„Kind – Kind – was sind das für Geschichten! – Ja, a Porta hat recht damit, was er über dich sagt.“

„Was sagt er denn?“

„Du seiest eine von denen, die man nie ganz ergründet – deine harmlose Schelmerei und Fröhlichkeit sei bei dir nur der Werktag; du habest aber für dich immer noch einen Sonntag von Gedanken, und die fliegen so hoch und so tief, daß man einen stillen Kummer um dich nie ganz los werde.“

„Das hat a Porta, mein verehrter Lehrer, sehr hübsch gesagt,“ versetzte Cilgia mit einem Anflug von Spott.

„Und wenn nun Sigismund Gruber, euer Flüchtling aus Tirol, als Freier zu dir kommt, was sagst du ihm, Cilgia?“

„Ich kann noch keinen Freier brauchen,“ lachte sie voll Mädchenübermut.

„Der junge Gruber kommt aber – Melcher sagt’s. – In aller Not hat er sich zu Fetan in deine Augenlichter verschossen, und der Alte ist nicht dagegen, denn er hat deinen Vater gekannt.“

Cilgia schwieg eine Weile, dann sagte sie nachdenklich und warm: „Gott sei Dank, daß die Last des Geheimnisses von mir genommen ist! – Ich fürchte aber, Onkel, daß ich mit einem Mann nicht glücklich würde, den ich um sein Leben habe winseln sehen. Ich habe so wunderliche Vorstellungen von der Liebe. Ich meine, ich sollte zu einem Mann emporsehen können wie zu einem Berg, und es müßte von ihm Firneschein ausgehen für mich und viele. Dann könnte ich ihn lieben und ihm dienen wie eine Magd – ja ich fürchte, ihn liebte ich nur zu sehr!“

Die Lichter von Pontresina schimmerten und die Pferde hielten vor dem Pfarrhaus von selber an.

„Gott mit der Landsgemeinde und allen, die daran teilgenommen haben!“ sprach der Pfarrer.

(Fortsetzung folgt.)     


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 591. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0591.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)