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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Aber nein – mein liebes Kind! Welch ein Gedanke!“ sprach er.

„Ah ...“ Erleichtert, beruhigt seufzte sie auf. Ihre verzerrten Züge ebneten sich, ihre Hand fiel herab.

„Nicht wahr – das hätte Sie und uns alle, die wir ihn schätzen, hart getroffen? Auch Sie, ich weiß es, wünschen wie wir ihm Leben und – – Glück.“

„Glück?“ murmelte Sabine. Der alte Herr hatte das Wort so zögernd, so sonderbar gesprochen ….

„Ja, das Glück einer Ehe, die auf dem Fundament reinster Neigung, der völligen Zusammengehörigkeit zweier Charaktere beruht. Ein Weib, das ihn liebt, ehrt und versteht. Das seiner etwas schwergrüblerischen Art heitersten Lebensmut beigesellt.“

„Wie sollte er ein solches Weib finden?“ sprach sie tonlos.

Eine furchtbare Ahnung stieg langsam und mit grausamer Drohung vor ihr auf. Aber sie wollte nicht glauben … Und sie wollte auch Haltung bewahren …. stolze Haltung – lieber Verachtung zeigen als Gram …. lieber schlagen als wieder und immer wieder geschlagen werden.

„Er hat es gefunden!“ sagte der alte Herr langsam.

Sie saß wie von Stein.

„Achim ist seit vierzehn Tagen mit Susanne verlobt. Sie wollen der Welt erst ihr Glück zeigen, wenn es Ihren Segen, teure Sabine, erhalten hat,“ vollendete er.

Sie schwieg, sie rührte sich nicht. Sie sah vor sich hin mit starren, blöden Blicken.

„Mein Kind,“ rief der alte Mann, dem das Weh das Gemüt durchzitterte, „weinen Sie! Schreien Sie! Ich weine mit Ihnen. Besinnen Sie sich! Es ist eine Thatsache, auf die Sie immer einmal gefaßt sein mußten. Sie und Er – Sie konnten nicht zusammenkommen – nie! Das wußten Sie doch!“

Er nahm ihre Hand. Sie war kalt.

Schwer klopfte ihm das Herz, und eine große Angst erwuchs in ihm. Wenn sie nur nicht so still und starr und bleich dasitzen wollte … Wenn er doch ihre Thränen hervorlocken könnte! Wenn der Mosesstab doch sein wäre, diesen heiligen Quell fließen zu lassen, der das sengendste Leid kühlt!

Er neigte sich zu ihr.

„Sabine,“ sprach er, „soll ich Ihnen erzählen, wie es ward?“

Sie nickte nicht.

Aber er dachte: Vielleicht hört sie es doch. Und er nahm ihre Hand wärmer noch und inniger zwischen seine beiden. Seine Blicke, feucht von einer unendlichen Zärtlichkeit, innig von einer reinen Güte, hefteten sich eindringlich auf ihr lebloses Angesicht.

„Als er mir damals schrieb, er würde ihre Hand begehren, da, mein liebes Kind, da war ich ganz gefaßt darauf, die Nachricht zu bekommen, daß Susanne ihm jubelnd um den Hals gefallen sei. Es wäre vielleicht nicht sehr stolz gewesen. Vielleicht auch nicht sehr klug. Aber doch sehr menschlich und verzeihlich. Denn sie liebte ihn! Das hatte ich schon gemerkt von der ersten Begegnung her. Das lautere Herz meiner Susanne habe ich gekannt und beobachtet, seit ihren frühesten Kindheitstagen. Wie hätte mir die erste Beunruhigung dieses Herzens entgehen sollen!“

Sabine gab kein Zeichen, daß sie höre.

Er aber sprach fort. Er fühlte, daß Gerechtigkeit und Notwendigkeit ihn zwangen, zu sprechen.

„Lassen Sie mich es Ihnen frei eingestehen: daß dies tapfere, gesunde, ehrliche Kind den Mut und den Takt gehabt hat, so ohne Besinnen, so ohne Kampf und nachträgliche Reue Nein zu sagen, das hat meine Liebe zu ihr erhöht. Ich ließ mir dies ‚Nein‘ nachher von ihr begründen. ‚Onkel,‘ sagte sie, ‚wenn er mich liebte, so wie ich ihn, dann hätte ich Ja gesagt. Dann mußte ich Ja sagen, denn zweier Menschen Lebensglück durfte nicht aufgegeben werden, weil vielleicht die arme Sabine noch mehr gelitten hätte. Aber da er nicht aus Liebe um mich warb, mußte ich wohl Nein sagen – auf mein Glück allein kam es nicht an.‘ Nicht wahr, Sabine, das war eine gerade und gute Empfindung?“

Ihm schien’s, als zuckte die kalte Hand zwischen seinen umschließenden Fingern.

„Das waren nun Susannens Ansichten von der Sache, und ich erfuhr sie unter Thränen. Ach, diese jungen, leichtfließenden Thränen der Jugend, die selbst im schwersten Gram noch unbewußt in tausend Hoffnungen steckt! Auch ich hatte meine Ansicht von der Sache gewonnen, und zwar aus Achims Brief. Ich fühlte, daß auch in seinem Herzen eine noch zaghafte, aber unabweisbare Stimme für meine Susanne sprach. Ich sah zwei junge, mir teure Menschen, wie füreinander von der Natur bestimmt! Und ich sollte nicht das meine dazu thun, sie zusammenzuführen? Ja, meine teure Sabine, ich habe es gethan. Ich habe ihr und ihm vorgeredet, daß man sich nicht zu meiden braucht, nach solchem Antrag und solchem Korb. Ich habe sie zusammen eingeladen und meine innige Freude gehabt, wie die zarten Keime wuchsen, wie die zaghaften Stimmen lauter sprachen und wie endlich die innige Erkenntnis: ‚Wir gehören zusammen für Leben und Tod!‘ ihnen leuchtend aus den Augen brach. Und wenn ich Ihrer gedachte, liebe Sabine – und wann wäre eine Stunde vergangen, ohne daß ich nicht Ihrer gedacht? – dann sagte ich mir: Sie sind groß und gut! Und so werden Sie sich bewähren, auch diesem Bunde gegenüber. Susanne aber will sich ihres Glücks nicht freuen ohne Ihren Segenswunsch.“

Ein zitternder Seufzer kam von Sabinens Lippen. Das erste Lebenszeichen. Und es schien, als spräche sie etwas. Unhörbar …. Ihre Lippen bewegten sich. Ein bitteres Lächeln blieb auf ihnen zurück.

Er aber streichelte ihr liebevoll die Hände und sah sie immerfort an. Mit geduldigem Herzen wartete er. Er kannte den Schmerz. Er hatte in stillen Leiden gestanden, seit vielen, vielen Jahren. Er sah es … sie war wie betäubt von dem Schlage …

Wenn sie nur nicht daran zu Grunde gehen wollte! Nur ein bißchen Kraft und Stolz heraus retten aus dem Jammer dieser Stunde … Dann traute er sich’s schon zu, mit schonenden, geduldigen, leisen Händen sie langsam wieder aufzurichten ….

„Mit … Susanne …,“ kam es jetzt heiser aus ihrem Munde. Es war wie eine Frage. Wie ein Laut noch völligen Unglaubens.

„Mein Kind,“ begann der alte Mann fast feierlich, „es mag Ihnen als etwas Unbegreifliches scheinen: nach dem hohen, rasenden Flug der Leidenschaft, die sonnenwärts fuhr und sich die Flügel brach, nun den Mann sich zu denken als einen, der gleichsam durch friedliche Blütengärten wandelt. Sie sahen sich ergriffen von einer überlebensgroßen Liebe und verloren die fühlende Verbindung mit dem bürgerlichen Dasein. Ach! mein liebes Kind: es giebt nichts Ueberlebensgroßes zu zweien, im Gedränge der Wirklichkeit! Wer so fühlt, wie Ihnen ein Gott gab, empfinden zu können, der steht einsam! Sehr einsam, und ist vielleicht verurteilt, es für immer zu bleiben.“

Seine Stimme schien zu brechen. Sein Auge war naß.

Nie Vergessenes trat vor ihn hin. Himmelstürmende Freuden und Leiden vergangener Jahre erschütterten ihn neu.

Hier war eine, die litt, wie er einst gelitten, die staunte, wie er einst gestaunt – – – Und diese Eine hatte in den Winter seines alten Herzens noch einmal ein keusches, verborgenes Leben zurückgebracht ……

„Wir alle, meine Sabine, wir alle sind nur Menschen! Auch er, den Sie so sehr geliebt, war nur ein Mensch. Nicht kühn und hart genug, um über Gräber zu schreiten! Nicht kalt und eisern genug, die Schönheit zu fliehen, die mit tausend Zaubern der Liebe in seinen Weg sich stellte. Aber daß er nicht so hart und daß er nicht so kühn war, ehrt sein Herz. Und daß er nicht kalt und nicht eisern war – wer will ihn deswegen richten?! Er war ein Mensch von Fleisch und Blut! – Und Sie selbst, mein Kind, haben nicht auch Sie sehr menschlich gehandelt?! Und glauben Sie, wenn sich wirklich Ihre Wünsche erfüllt, wenn Sie den so leidenschaftlich Geliebten für immer sich zu eigen gewonnen hätten, daß Sie ein wahres Glück mit ihm finden konnten?! Auf den wilden Sturmesflügeln der Leidenschaft kann man nicht zu zweien durch dies Leben rasen. Ihr Wesen ist Unruhe, ihre Macht zu herrisch, ihr Atem kurz!“

Er schwieg. Er wartete wieder. Was er sagen konnte, es war gesagt.

Als sie zum zweitenmal seufzte, war es wie ein Erwachen. Sie entzog ihm die Hände und bewegte sie unruhig, gleichsam suchend auf ihrer Brust, auf ihrem Herzen.

Dann stieß sie den Tisch zurück und machte den Versuch, aufzustehen. Der alte Mann half ihr sanft.

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