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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Unterredung mit Achim zu haben, sobald derselbe wieder in Berlin sei.“

Dies war das letzte Zeichen, das an die stürmische Zeit, die hinter Sabine lag, mahnte.

Dann sank eine große Stille über ihr Leben. Sie wandelte hindurch wie eine, die wachend träumt, an allem nur äußerlich mechanisch teilnehmend.

Das Weihnachtsfest ging so an ihr vorüber. Es blitzte Lichterglanz in ihre Augen. Kinderlachen scholl an ihr Ohr. Breite Festfreude that sich ringsum behäbig gütlich am Wohlleben der Feierzeit. Kirchenglocken hallten durch die Winterluft. Und auf den Fluren lag der stille, weiße Schnee.

Dann kam Reinalds Hochzeit. Wie nah’ war ihr einst dies Fest gegangen, wenn sie es in ihrer Phantasie im voraus erlebte. Dann war es ihr gewesen, als würde die Vermählung des einzigen geliebten Bruders ihre Seele tief erschüttern; heiße Wünsche und Sorgen für sein Glück ließen sie dann schon im voraus Thränen weinen.

Was ging sie dieser behaglich fröhliche, wichtig auftrumpfende Mann eigentlich an, der infolge der Anbetung seiner Braut ein unfehlbarer Sittenrichter geworden war, dem sich der Horizont langsam und ständig mehr eingeengt hatte, so daß er nur noch eine ganz kleine Welt voll zufriedenem Glück und ausschließlich landwirtschaftlichen Interessen einschränkte? Was ging er sie an?! Es war ihr Bruder! Ja.

Aus einer Wiege waren sie entsprossen. Ach, wie man im Leben auseinander wächst! Eigentlich war es zum Weinen.

Aber wozu weinen?

Sabinens Augen waren trocken.

Sie blieben es auch, als auf der Trauung alle Damen in Thränen schwammen und selbst die Herren sich heimlich die Augen wischten.

Warum weinten alle diese Leute? Reinald und Martha gingen ja einem fraglosen, sicher fundamentierten Glück entgegen. Es konnten einmal ein paar Mißernten kommen. Ihre Kinder konnten erkranken, oder sie bekamen keine Kinder und wünschten sich vergebens welche. Die kleinen Opferungen an das Schicksal würden ja auch ihnen nicht erspart bleiben. Aber was war das?

Ach, Alltagsleid und Alltagsglück.

Martha hing nachher an ihrem Halse, rot und gedunsen im Gesicht vom Weinen, und schwor ihr, Reinald glücklich zu machen.

Welch ein überflüssiger Schwur! Diese beiden mußten ja geradezu Kunst aufwenden, sich nicht glücklich zu machen.

Benno von Zeuthern war zu der Hochzeit eingeladen und auch gekommen. Er glaubte, Sabinen diese Rücksicht auf ihre Familie schuldig zu sein. Sie hatte darüber vorher eine kleine, blasse Freude gehabt. Sie konnte ihn nach Achim fragen. Endlich, endlich wieder etwas von ihm hören.

Aber als sie den jungen Schwager vor sich sah, nett, fröhlich, mit lauter Redensarten, die gerade im Regiment aufgekommen waren, da mochte sie den einen Namen doch nicht über ihre Lippen bringen.

Und der Schwager wunderte sich nicht wenig, Sabine so schweigsam, so drückend ernst und so abgemagert zu finden. So ganz heimlich hatte er früher seine Gedanken über seines Bruders Ehe gehabt, die er nicht für glücklich hielt. Und nun schien es, als verzehre sich Sabine im stummen Gram?! Das genierte ihn beinah’. Denn er hatte seinen Bruder schon längst verschmerzt. Aber die Witwe – na, das war am Ende ja auch was anderes.

Nach Reinalds Hochzeit ging die Zeit in ungestörter Ordnung weiter. Alle vierzehn Tage, Sonntags, aßen Reinald und Martha in Mühlau bei den Eltern. Es wurde dann vom Wirtschaftsbetrieb, der Küche und den Leuten auf Heinsdorf gesprochen. Sabine war naturgemäß von der Unterhaltung ausgeschlossen.

Ich bin ein fremder Gast am Tische meiner Eltern, dachte sie. Zuweilen regte sich im Untergrund der Seele ihr ein Gefühl, das mahnend fragen wollte: Liegt es nicht an dir? Was nicht in den Dingen ist, kann man hineintragen. Und trägst du höheren Gehalt hinein in deine Umgebung – mit jenem leisen, feinen Wirken, dessen eine kluge Frau fähig sein sollte? Thust du das?

Ich will nicht, antwortete sie trotzig der mahnenden Stimme.

Nein, sie wollte nichts. Kein Leben, keine Freude, kein Vergessen. Sie wollte leiden!

Jeden Tag stand sie vor ihrem Wandkalender und sah die Stelle an, wo der erste März verzeichnet stand. Das war der Erlösungstag. Dann würde sie, so war es ja schon im November bei ihrer Rückkehr aus Italien bestimmt, nach Berlin reisen.

Sie war zu erschlafft in ihrem brütenden Leid, um selbst Briefe zu schreiben. Das Rot stieg ihr in die Wangen, wenn sie daran dachte, daß sie dem alten Herrn wohl einmal schreiben müsse. Aber er, der alles verstand, würde auch ihr Schweigen verstehen.

An Susanne ging zuweilen eine Karte ab. Gewöhnlich stand nur darauf: ich habe deinen Brief empfangen, schreibe bald wieder.

Und Susanne schrieb oft. Gierig durchforschte Sabine die Zeilen nach dem einen Namen. Er kam nicht vor. Susanne hatte ihr fest versprochen gehabt, ihr von ihm zu berichten, sobald sie nur von ihm höre, oder ihn von weitem sähe, was ja immer im Schauspiel- oder Opernhaus noch am ehesten möglich sein konnte. Demnach sah sie ihn nie. Berlin war ja auch zu groß. Dort konnte man jahrelang leben, ohne einen Bekannten zu treffen.

Was aber Sabine nicht begriff, das war der lebensfrohe Ton in den Briefen der Freundin. Susanne schrieb befriedigt von ihren Studien; zum Ostertermin hatte sie sogar schon eine Stellung, worüber Onkel Fritz beinahe böse sei, und die Donnerstagabende bei Onkel Fritz seien immer bezaubernd.

Sie liebt nicht so wie ich, dachte Sabine dann. Oft aber war noch ein großes Erstaunen in ihr, daß Susanne Achims Antrag abgewiesen. Erst lange nachher, als Susanne schon wieder in Berlin war, begriff Sabine plötzlich, daß das eine furchtbare Versuchung gewesen war: Susanne liebte ihn und sagte dennoch Nein!

Gewiß, er hielt nur aus äußeren Gründen um sie an, nicht aus innerstem Herzenszwang. Aber konnte Susanne nicht hoffen, sich als Frau sein Herz noch zu erobern? Zitternd fragte sich Sabine, wie sie in solcher Lage gehandelt haben würde, und – wagte nicht, sich die Frage zu beantworten.

Wie sehr auch die Tage schlichen, endlich kamen sie doch bis an den ersten März.

Eigentlich ließen der Oberamtmann und seine Frau Sabine auch jetzt ungern reisen. Sie gefiel ihnen noch immer nicht. Die Eisenpillen, die Sebold ihr verordnet hatte und die sonst großartig wirkten, waren bei ihr ohne Erfolg geblieben. Sicherlich, dies alte Berlin würde ihr schaden.

Ueber die kahlen, vom aufgetauten Schnee nassen und schwarzen Felder brauste ein kräftiger Sturm. Sabine sah vom Coupéfenster aus, wie die Gipfel einzelstehender kahler Bäume niedergestrichen wurden. Alles, was vom Erdboden aufragte, schien eine Richtung nach Osten bekommen zu haben. Am Himmel jagten vor einem grellen, silbergrauen Lichtgrund regenschwere, dunkle Wolken dahin.

Gegen die vierte Stunde kam Sabine in Berlin an. Gleich sah sie den alten Herrn stehen. Vor Freude wurden ihr die Augen naß. Sie eilte ihm entgegen und nahm dankbar die schönen Rosen aus seiner Hand.

„Wo ist denn Susanne?“ fragte sie.

„Beschäftigt. Sie kommt später zu mir, um ihre liebe Sabine zu begrüßen.“

Er reichte ihr den Arm und führte sie hinab an einen Wagen.

Es war ihr lieb, daß er erst noch allerlei mit ihrem Gepäck zu thun hatte. Sie fühlte sich doch ein wenig beklemmt. Was sollten sie zusammen sprechen? Was vermeiden, was berühren?

Zu viel war geschehen, als daß sie noch mit Schweigen über das Vergangene hinwegzugehen vermochten.

Aber der alte Herr schien keine verlegenen und befangenen Gedanken zu kennen. Er war so lebhaft, ja geradezu munter, wie Sabine ihn noch nie gesehen hatte.

Während ihr Wagen vom Anhalter Bahnhof durch die Königgrätzer und Potsdamer Straße fuhr, drückte er ihr nur wiederholt herzlich die Hand.

Aber dann, als sie in die stillere Königin Augusta-Straße bogen und am Kanal entlang kamen, sagte er gleich:

„Während dieser langen Zeit, liebe Sabine, die ich Sie entbehren mußte, ist mir doch klar geworden, daß Ihre Eltern, sie mögen nun wollen oder nicht, Sie und Ihre Kleinen mir alljährlich einige Monate gönnen müssen. Schließlich, Sie sind ja

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