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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Der gewaltige Nationalheros des neugeeinten deutschen Volkes wird für alle Zeit Fürst Bismarck sein und bleiben. Ein bescheidener Platz gebührt aber auch dem treuen Eckart des Deutschtums, Friedrich Ludwig Jahn, dem Begründer des deutschen Turnwesens, dessen Standbild auf der Hasenheide bei Berlin sich erhebt. In diesen Tagen wird zu Freyburg an der Unstrut, wo er 1852 starb und seine Gebeine ruhen, im Anschluß an den Deutschen Turntag der Grundstein für ein Jahn-Museum gelegt. Alles was an Jahn erinnert und was Zeugnis ablegt von der in seinem Geiste gepflegten Turnarbeit, soll in dem Museum seine Stätte finden.


Die „Kinderzeche“ in Dinkelsbühl.

Von Alex. Braun.0 Mit Illustrationen von Fritz Bergen.

Kinderzeche?“ – „Dinkelsbühl?“ fragen mit neugierigem, vielleicht sogar ein bißchen geringschätzigem Erstaunen gewiß die meisten, denen eine gelegentliche Zeitungsnotiz oder ein vereinzeltes Plakat die beiden Namen zum erstenmal vor Augen bringt. Wieviele im neuen Deutschen Reich wissen wohl etwas von der alten Reichsstadt, die eine der ältesten im fruchtbaren Virngrunde, an der Grenzmark zwischen Franken und Schwaben auf ihrem von goldenen Dinkel- und Weizenfeldern umwogten Bühel (Hügel) liegt, mit ihren grauen bemoosten Türmen und braunroten Dächern wie ein Dornröschen eingesponnen in Schlingrosen, Eppich und Blütengerank? Verschollen, dem großen modernen Verkehr entrückt, spiegelt sie die festgefügten Quadermauern, die schon am 9. April 1285 Kaiser Rudolf von Habsburg beherbergten, in den schillernden, von Seelilien überwucherten Wassergräben, auf denen Schwäne, als wären sie die Wächter dieses poetischen Zaubers, langsam und gravitätisch hin und her gleiten.

Es dauerte lange, bis Dinkelsbühl sich selbst entdeckt und, seiner malerischen Reize endlich bewußt, im begreiflichen und begründeten Wetteifer mit dem benachbarten Rothenburg o. T. es wagte, die Aufmerksamkeit der Welt auf seinen stillen Traumwinkel zu lenken.

Die „Kinderlore“ mit den Kindern vor dem Rat.

Willkommenen Anlaß bot die Kinderzeche, ein so ehrwürdiger Stadtbrauch, daß bereits das Ratskollegium von 1660 ihn „als eine alte Gerechtigkeit, die nicht abgethan werden könnte“, anerkannte. Selbst in Zeiten bitterster Not hatten die Dinkelsbühler die Sitte heilig gehalten, die eine sinnig gemütvolle Sage in Zusammenhang brachte mit der Errettung der Stadt vor dem Zorn der Schweden. Bei der ersten am 11. Mai 1632 erfolgten, für den Umschwung im Stadtregiment so bedeutsamen Uebergabe des kaisertreuen Dinkelsbühl an die Truppen Gustav Adolfs soll die Fürbitte der Kinder nämlich das Herz des schwedischen Obristen Klaus Sperreut zur Gnade gerührt haben. Zum Lohn und Gedächtnis daran läßt die Stadt nun alljährlich im Juli auf dem Bestwasen (Schießwiese) auf ihre Kosten die „Kinder zechen“. Zwar wird die sprichwörtliche ortsübliche Freigiebigkeit, die bei mittelalterlichen Ratsgelagen den Gast erst mahnte, die dritte Maß Wein ex propriis (aus eigener Tasche) zu bezahlen, weislich eingedämmt und der Schwerpunkt der Bewirtung auf die mit Pfeffernüßlein und allerhand Zuckerwerk gefüllte „Gucke“ verlegt.

Die geschichtliche Forschung hat einerseits die glimpfliche Behandlung, die Sperreut der Stadt, hauptsächlich zu Gunsten der Evangelischen, angedeihen ließ, auf eine später von Rats wegen viel umstrittene „Recompense“ (Erkenntlichkeit in Barem) zurückgeführt, und legt andererseits die Vermutung nahe, daß die Kinderzeche ursprünglich ein germanisches, von der Jugend dem Sonnengott geweihtes Mitsommerfest war aus der Zeit, da Dinkelsbühl noch nicht als die Klosterstiftung des auf dem Bühel ansässigen frommen „Dinkelbäuerle“ betrachtet wurde, sondern eine auf der Höhe gelegene Dingspill, eine urdeutsche Gerichtsmahlstatt, war.

Aber aller wissenschaftlichen Erörterung und Erklärung ungeachtet behält im Herzen des Volkes die Ueberlieferung mit Fug und Recht doch das letzte Wort. Dinkelsbühl hat seine Privilegien, mit denen 1305 ihm gleiches Recht mit Ulm, 1309 die eigene Gerichtsbarkeit verliehen worden war, eingebüßt, es hat seine Selbständigkeit 1804 an Preußen und 1806 endgültig an Bayern verloren – Eines nur, die „Kinderzeche“, von einem Geschlecht zum andern treulich gehegt als liebste Freude und Erinnerung der Jugend, ist unversehrt geblieben im Sturm und Wandel der Jahrhunderte.

Im guten Glauben, daß

„Die Stadt befreit ward aus Gefahr
Durch ihrer Kinder Flehen“

hielten alljährlich die Kinder, die Knaben mit einem berittenen Obristen an der Spitze, mit Schnurrock, Degen und Partisane, die Mädchen im buntbebänderten weißen Festkleid, ihren feierlichen Umzug, sprachen vor dem Rathaus ihren Spruch und ergötzten, die lecker gefüllten „Gucken“ im Arm, sich auf dem „Wasen“. Vielfach ist in „Jubelliedern“ und sonst in Vers und Prosa die Kinderzeche von einheimischen Dichtern verherrlicht worden, ehe man 1897 auf den glücklichen Gedanken kam, sie zu einem eigentlichen Volksschauspiel zu erweitern.

Dem Dramaturgen Ludwig Stark, der auch den Rothenburger „Meistertrunk“ zu bühnengerechter Wirksamkeit gebracht hat, ward die Aufgabe, die Sage von der gnadeerweckenden Fürbitte der Kinder dramatisch auszugestalten. Ein voller Erfolg krönte 1897 die Erstaufführung des genau den Ortsverhältnissen angepaßten, von vaterländischem Geiste getragenen Stückes, und jede Wiederholung, so namentlich die vom 17. Juli dieses Jahres, bekundet aufs neue die Tüchtigkeit der Gesamt- wie der Einzelleistungen.

Am frühen Morgen des ein für allemal zum Festtag angesetzten dritten Montags im Juli ruft Geschützdonner aus den „Stücken“ auf der Mauer die in Scharen von weit und breit herbeigeströmten Festgäste nach der alten Schranne, dem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0540.jpg&oldid=- (Version vom 28.11.2022)