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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Taumel von Genießen! Die Jagd nach dem Geld, und dann die Parforcejagd nach dem Vergnügen. – Ich bin froh, daß ich draußen bin. Zwei Meilen weit davon – ich kann auch zweitausend sagen. Mit meiner Landwirtschaft, meinen Blumen, meinen Büchern … Ich bin froh! Ich bin froh!“

Er ging mit aufgeregten, unruhigen Schritten durch das große Zimmer hin.

Hans sah ihm mit den rundlichen Augen nach. Ach, du bist ja gar nicht so froh, sagte er inwendig, ohne sich zu rühren. Du thust ja doch nur so, Onkel Julius. – Villa Viola hoch! Das ist meine Meinung. – Er wird alt, der Onkel. – Und sonst so ein Prachtmensch. – Will machen, daß ich fortkomm’!

„Hast du was in der Stadt zu bestellen?“ fragte er, als Hochfeld mit gesenktem Kopf wieder näher trat.

„Zu bestellen? Nein. – Allerdings, wegen dieses Telegramms da kannst du der Tante Clotilde sagen – – ja, was denn? – Es wird sich finden, sag ihr nur; ich weiß es noch nicht. Vielleicht – vielleicht fahr’ ich heut noch selber hinein, auf ’ne halbe Stunde, um das Kind zu sehn. Das Weitere wird sich finden, wird sich finden …“

„Sehr wohl, Onkel Julius.“

„Du willst natürlich reiten?“

„Ja.“

„Nimm nur ’nen Mantel mit. Es wird vielleicht am Abend plötzlich kalt.“

Hans lächelte. „Ein so abgehärtetes Menschenkind wie ich! – Wir haben ja noch August.“

„Kaum noch; beinah schon September. Und du kennst doch unser Klima, Junge: heiße Tage, kühle Abende. – Dein dünnes Röckchen.“

„Aber darunter ein warmes Herz!“ erwiderte Hans mit einem seiner „schuldlosen Scherze“, wie sie der kritische Onkel nannte. „Und zwar ein Soldatenherz. – Also auf Wiedersehn!“

Nein, was der sorgenvoll wird! dachte er und ging aus der Thür.

Julius zuckte die Achseln. Er sah durch die Glasthür auf den Himmel hinaus; wolkenlose Bläue lag über den hohen, besonnten Wipfeln und Kronen des Gartens. Es war noch ein richtiger Sommertag … Plötzlich überlief ihn doch ein Frösteln; warum? woher? Es mußte wohl aus der Seele kommen. Ihm war auf einmal alles leer und tot; die besonnte Welt, dieses schattige Zimmer, die Jagdtrophäen an der Wand, die Bilder, die Bücher, die hohen Yucca’s, die mächtigen Philodendren, die Statuen dazwischen. Ein Ekel an allem legte sich wie ein glattes, häßliches Ungeheuer um ihn her, umgeiferte, umschnürte ihn, schüttelte ihn dann. Es war, wie wenn nichts mehr lebte, als das dumme Blatt da auf dem Tisch, das kalte, nichtssagende Telegramm. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll. – Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“ Warum grüßt sie ihren Vater von der Villa Viola aus? Weiß sie auch schon nicht mehr, wohin sie gehört? Hat sich dieses junge Ding schon hineingefunden, daß Vater und Mutter ihre gesonderten Wege gehn? Und hält sie zu ihrem Geschlecht? Thut sie, was die Mutter will? Ist sie doch mehr der Mutter Kind?

Und er hatte doch oft im Stillen, mit heimlicher Freude gedacht: sie ist mehr mein Blut …

Ein wilder Entschluß, den er in sich kommen und wachsen sah, stand ihm auf einmal fest in der Brust. „Nein!“ sagte er laut gegen den Tisch, gegen das Telegramm hinunter, „so halt’ ich’s nicht aus! Diese Halbheit – das ist der Tod. Dabei vergeht einem ja die Menschenwürde. Ein Ende machen! so oder so!“

Er sah den alten Mahnke, seinen zweiten Diener, durch den Garten gehn; Friedrich, den besseren, hatte er in seiner ritterlichen Art bei Clotilden gelassen. Er trat in die Gartenthür. „Mahnke!“ rief er. Der Alte kam heran.

„Lassen Sie anspannen; den Zweisitzer. Legen Sie meinen Mantel hinein. Ich fahr’ in die Stadt!“


2.

Hochfelds Gut lag nicht an der Elbe, sondern hinter Hosterwitz und Pillnitz nach Nordosten ins Land hinein; die beiden Straßen, die nach Dresden führten, waren ungefähr gleich weit, gegen vierzehn Kilometer lang. Hans, auf seinem Braunen, wählte den hübscheren Weg, nach Hosterwitz hinunter und dann an der Elbe fort. Bei so schönem Wetter wie heut war es ihm ein immer neues Vergnügen, zwischen Fluß und Höhen hinzureiten; rechts die Hügel mit Villen bedeckt, links nahe und fernere Dörfer über die Ebene hingestreut, dazwischen der spiegelnde Strom, auf dem die Personendampfer, die Schlepper so heiter auf und nieder fuhren, als wäre das ganze Leben nur ein lustiges Hin und Her. Dann wuchs ihm die große Stadt entgegen; zuerst ihre Vorboten: Loschwitz, Blasewitz, die Schillerdörfer (auch Hans von Hochfeld kannte seinen Schiller, wenn er ihn auch ein wenig als unmodern verachtete); darauf die Vorstädte hüben und drüben, die hochragenden Kirchen, die unzähligen Bäder im Strom, die große Terrasse, die Villen und die Gärten. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen! hatte er sich unterwegs als Ehrenmann mehrmals vorgesagt, sogar vorgesungen; denn an Pflichtgefühl fehlte es ihm nicht. Zuerst die Besorgungen drüben in der Altstadt, dann wieder herüber und in die Villa Viola! – Nur als ihn seine Straße geradezu an dieser Villa vorbeiführte – das schöne weiße Gebäude mit dem vergoldeten Balkon lag so aufdringlich am Weg – da schüttelte er den jungen Kopf. So vorbeizureiten, dachte er, das ist doch zu dumm! Man kann doch erst mal sehn, was die Leute hier machen …

In der Thür, unter dem Balkon, stand Heinrich, der Diener; Hans stieg ab und übergab ihm sein Pferd. In seiner neugierigen Ungeduld sprang er dann sogleich ins Haus. Sonderbar! Das hatte er sich anders gedacht: alles war still, die Zimmer leer; kein Mensch und keine Katze zu sehn. Er ging immer geradeaus, durch den runden Saal, der ihm so besonders gefiel, den oben eine ebenso runde Altane umlief, auf die eine Menge Thüren mündete; auch hier tiefe Stille. Im Gartensalon war’s ebenso. Durch die große Glasthür und die hohen Fenster sah er die belebte Elbe und die Altstadt drüben, ein „famoses Bild“; um ihn her regte sich aber nichts. Erst als er dann in den Garten trat, sah er einen Menschen; dessen Anblick war aber auch unerwartet. Friedrich, der Hochfeldsche Diener, in der Hochfeldschen Livree, der „Musterdiener“, saß am Eingang einer Laube im Schatten, an einem Tischchen, auf das er die Hand und den Kopf gelegt hatte, und schlief. Man konnte ihn sogar leise schnarchen hören.

Hans ging kopfschüttelnd auf ihn zu. „Friedrich!“ rief er ihn nach einer Weile an.

Der Diener erwachte sofort, sah, wie und wo er war, und machte ein so verlegen beschämtes Gesicht, daß der Jüngling auflachte. „Was Tausend!“ sagte er. „Friedrich! Musterknabe! Sie schnarchen hier am hellen Tag?“

Friedrich stand auf; er versuchte zu lächeln, es gelang ihm aber nicht. „Das sagen Sie wohl, Herr von Hochfeld,“ erwiderte er verdrießlich. „Die Natur fordert ja bekanntlich ihre Rechte; wen man bei Nacht nicht ausschlafen läßt, der muß dann bei Tage schlafen. Das ist ’ne alte Geschichte –“

„Ihr lebt hier so lustig?“ fiel ihm Hans ins Wort.

„Es giebt immer was,“ sagte Friedrich langsam. „Den Herrschaften fällt so vieles ein, was notwendig geschehen muß: bald ’ne große Reitpartie, bald ein Kegelabend hier im Garten, mit ausgesetzten Preisen; dann ein Feuerwerk. Und getanzt wird – wer weiß, wie oft. Und wer weiß, wie lange. Wir machen ja auch viel Musik, Herr von Hochfeld. Heut abend werden wir im Konzertsaal ,lebende Bilder‘ haben; zum Schluß italienische Mondscheinnacht im Garten, am Wasser –“

„Teufel!“ rief Hans, wie elektrisiert; es durchzuckte ihn. „Und ich fast jeden Abend mit den Hühnern zu Bett!“

„Sagen Sie nichts gegen die Hühner,“ bemerkte Friedrich; legte sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Ich beneide Sie und die Hühner – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

„Aber Sie sind doch nur für meine Tante hier!“

Friedrich schüttelte lächelnd den Kopf: „Ach ne, sagen Sie das nicht. Frau von Hochfeld leiht mich her; ich mach’ alles mit. Das ist ja auch ganz in der Ordnung; dagegen sag’ ich ja nichts. Heinrich und der kleine dumme Junge, wie wollten die mit dieser Wirtschaft fertig werden; die lägen ja schon unter dem Rasen, Herr von Hochfeld. Ach ne, es ist sehr gut, daß ich hier bin. Wir drei –“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 534. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0534.jpg&oldid=- (Version vom 26.11.2022)