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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

sich 58 km vom Hebewerke entfernt, nördlich von Münster. Die Kanalstrecke Herne- beziehungsweise Henrichenburg-Münster ist die interessanteste. Hier hat die teilweise gebirgige Bodengestaltung der Gegend an die schaffende Hand und das berechnende Auge des Ingenieurs starke Ansprüche gestellt. Zahlreiche Brücken und Viadukte überspannen den Kanal in weitem Bogen, und ein wahres Meisterwerk deutscher Ingenieurskunst und Schaffenskraft der hier erbauten Uebergänge ist die Lippebrücke bei dem Städtchen Olfen (Rauschenburg). Diese Brücke, welche den Kanal über das Flüßchen Lippe führt (vergl. unsere Abbildung auf S. 530), ist 70 m lang und 15 m breit. Dicht an dieser Kanalbrücke, am Ufer der Lippe, liegt ein großes Pumpwerk, welches in jeder Minute 120 cbm Wasser aus der Lippe in den Kanal hebt. Eine ähnliche Brücke befindet sich ganz in der Nähe dieser ersteren, dicht bei der Stadt Olfen. Hier trägt das Bauwerk den Kanal über die Olfener Chaussee.

Unterhalb der Stadt Münster beginnt die sogenannte Mittelhaltung des Kanals, welche 37 km lang ist und bei Bevergern endet. Von hier aus soll sich später nach Osten der bereits erwähnte Mittellandkanal zur Elbe abzweigen. Nun folgt der Kanal auf einer kurzen Strecke dem Laufe der Ems und des alten Emskanals, um dann bei Oldersum – südlich von Emden – wieder in das Flutbett der Ems einzulenken. Bei der alten ostfriesischen Handelsstadt Emden erreicht er die Nordsee.

Bei Oldersum herrscht bereits Ebbe und Flut. Man hat deshalb, um die Kanalschiffe dem hier gefährlich werdenden Wellenschlage der breiten Ems zu entziehen, den Kanal nicht hier in das Meer geführt, sondern bis Emden einen 9 km langen Seitenkanal, der auch zugleich die Verbindung mit dem Ems-Jade-Kanal (Emden-Wilhelmshaven) herstellt, erbaut. Um es den Kanalschiffen des Dortmund-Ems-Kanals zu ermöglichen, sofort vom westfälischen Industriebezirk nach Wilhelmshaven zu fahren, was namentlich für unsere Marine von großer Wichtigkeit wäre, hat die preußische Regierung den Plan, den Ems-Jade-Kanal, der 1884/87 erbaut wurde, weiter auszubauen.

Auf dem Dortmund-Ems-Kanal sind alle baulichen Einrichtungen so getroffen, daß Schiffe von 62 m Länge, 8,2 m Breite, 1,75 m Tiefgang und 600 Tonnen Tragfähigkeit mit einer Geschwindigkeit von 5 km in der Stunde bequem verkehren können. Die Fahrzeit von Emden nach Dortmund dauert 4 Tage. Den Hauptverkehr auf dem Kanal vermittelt die „Westfälische-Transport-Aktiengesellschaft“, deren Sitz in Dortmund ist, und die auch die sämtlichen Anlagen des Emdener Hafens vom preußischen Staate auf 10 Jahre gepachtet hat.

Zu den Einfuhrartikeln, die über den Dortmund-Ems-Kanal in den niederrheinisch-westfälischen Industriebezirk gebracht werden, gehören vor allem Eisenerze, Gruben- und Nutzhölzer aus Schweden, Getreide und Mühlenfabrikate aus unsern östlichen Provinzen und Kolonialwaren. Von den westfälischen Industrieorten werden hauptsächlich Kohlen und Erzeugnisse der gesamten Eisenindustrie zur Nordsee befördert werden.

So hat die unter dem Zeichen des Verkehrs stehende Gegenwart wieder eines jener wichtigen Bindeglieder geschaffen, die bestimmt sind, die Hindernisse des Raumes zu beseitigen und die Nationen in Handel und Wandel einander zu nähern.




Das lebende Bild.

Erzählung von Adolf Wilbrandt.


1.

Herr von Hochfeld und sein Inspektor waren den halben Nachmittag über Feld gegangen, die fast beendete Ernte und alte und neue Pläne besprechend. Sie trennten sich bei der großen Eiche, die nicht weit vom Hof am Weg stand; der Inspektor ging seiner Wohnung zu, Hochfeld sah ihm nach. Er lächelte ein wenig über den ehrenfesten, harten, plebejischen Gang seines Gutsverwalters; in dem Lächeln lag aber Achtung und Anerkennung, und sogar eine Spur von Neid. Wie vergnügt der Mann nun nach Hause geht, dachte er. Nachdem er als guter deutscher Biedermann hier draußen seine Schuldigkeit gethan hat, thut er sie nun auch in seinen vier Wänden und liebt seine Familie. Er weiß vielleicht selber nicht, ob er das mehr aus Vergnügen thut oder aus Pflicht! – – Ach, das ist ja alles eins …

Hochfeld seufzte leise. Er hat eine Familie, dachte er weiter; das ist doch die Hauptsache. Nun findet er seine nette Frau, die noch immer ein bißchen hübsch und auch noch immer ein bißchen kokett, aber doch eigentlich ein sehr guter Kerl ist; und findet seinen großen Jungen, der wohl auch einmal Inspektor wird, und sein fideles Lieschen – das so gern nach Loschwitz und Blasewitz geht und für Schiller schwärmt. Das sogenannte häusliche Glück. Na ja. Es ist nicht sehr feurig bei ihnen; aber es ist doch. Es ist doch …

Er zog die Brauen nieder – eine Bewegung, die sein allzu ernst gewordenes Gesicht jetzt so oft entstellte – und ging langsam über den Gutshof seinem Herrenhaus zu. Das Haus mit dem stattlichen gotischen Mittelgiebel, unter dem eine Welt von Grün emporrankte, und den zierlichen Seitengiebeln war wohl hübsch genug; aber zu einsam war’s. Er trat ein und durchschritt die Zimmer; durch irgend einen unbewußten Trieb geführt, kam er auch in die Wohn- und Schlafzimmer seiner Frau und seiner Tochter, die nebeneinander lagen; alle einst mit Liebe und mit wählerischem Geschmack von ihm eingerichtet; nun war niemand drin. Das stimmungsvolle Boudoir Clotildens, der Frau, die allerliebste kleine Kajüte Luisens – damals für einen werdenden Backfisch gedacht; jetzt war der Backfisch zur sechzehnjährigen Jungfrau geworden, der Schule und Pension entschlüpft. Aber wo war sie denn? Im Vaterhaus, wie sich’s gehörte? Nein, da drüben in Dresden, in der Villa Viola, bei diesen Saus- und Brausmenschen; mit der Mutter, die nun auch zu dem Volk gehörte … Ein förmlich bitterer, galliger Geschmack trat ihm auf die Zunge; es war das nichts Seltenes mehr. Ein feindselig verächtliches Gefühl verzog sein Gesicht. Ihm war sogar, als verblasse die Liebe zu seinem Kind, das er einst übertrieben vergöttert, in das er wie in einen goldenen Kelch hineingesehen hatte. Weil sie in dieser Villa Viola war, statt bei ihm, schien sie auch fremder, unholder, unerfreulicher zu werden. Er mochte ihre „Kajüte“ nicht mehr anschauen; so wenig wie das Boudoir Clotildens, die ihm so allmählich davongeflattert, ihm fast wie ein Traum war. Ja, ja, ich träume nur noch, dachte er mit einem finsteren Lächeln. Ich träume mein Leben nur noch … Er ging über den Korridor in sein Arbeitszimmer.

„Du hier?“ fragte er, da er seinen Neffen Hans am Schreibtisch stehn sah. Hans von Hochfeld, ebenso lang aufgeschossen und mager wie der Oheim, aber auch ebenso kräftig gebaut, mit dem noch etwas kindlich runden Gesicht eines guten Jungen, stand wie wartend da, Hut und Reitpeitsche in der Hand, in seinem feinsten Sommeranzug. Er machte eine militärische Verbeugung; er hatte sein Dienstjahr hinter sich.

„Hab’ eben ein Telegramm gebracht,“ antwortete er und deutete auf den Tisch. „Der Bote kam damit vor fünf Minuten. Ich dachte wohl, du kämst jetzt bald; denn ich sah den Inspektor, mit dem du fortgegangen warst, in seine Wohnung gehn.“

Merkwürdig gescheit! dachte Hochfeld; er hatte sonst von den Geistesgaben seines Neffen und „Volontärs“ eine geringe Meinung. Mit der trägen, erwartungslosen Gebärde eines vereinsamten Menschen, dem das äußere Leben wenig bringt, nahm er das Telegramm vom Tisch und öffnete es. Aus Dresden! sah er; und von seiner Frau. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll, und wann, und wie lange. Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“

Seine Brauen zogen sich wieder zusammen; ja, das ist ganz ihr Stil! fuhr ihm durch den Kopf. Ich soll immer bestimmen, entscheiden, erzwingen; wo sich eigentlich alles von selbst versteht, oder durch guten Willen sich von selbst ergäbe, da soll ich den Herrn spielen. Warum denn? Damit sie sich dann als Märtyrerin fühlen kann? Oder weil sie weiß, wie sehr ich dies Erzwingen hasse, und sich darauf verläßt: es wird nichts geschehn, alles bleibt wie es ist, ich kann weiter thun und lassen, was ich will?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 532. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0532.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2021)