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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

„Warum soll’n sie sich nicht kennen? Er stand doch in Berlin. Sie ist aus Berlin. Die Leute sagen, es sei eine alte Liebe. Na, und das wissen wir doch alle, daß in Berlin die jungen Mädels leichtfertige Geschichten machen. Denk’ doch bloß mal allein an all das, was unser früherer Major von der einen bewußten Hofdame erzählte. Also selbst in den Kreisen. Jedenfalls hat sie ihn hier in seiner Wohnung besucht, die alte Leermann soll es erzählt haben.“

„Ach, Unsinn,“ sagte die Oberamtmännin wegwerfend.

„Na, so ’n Unsinn ist es doch nicht. Warum soll so was nicht wahr sein? Das kommt doch vor! ’ne Sünde ist das doch gerade nicht, wenn zwei junge Menschen sich lieb haben,“ meinte Voigtstedt jovial.

„Aber heimlich von unserem Hause aus einen Mann in seiner Wohnung besuchen – noch dazu diesen Mann – das möchte man doch etwas schärfer beurteilen!“ sprach der Oberamtmann. „Wie ich dir aber sage: das ist Unsinn. Sie kennt ihn gar nicht. Und dann: guck dir mal das Mädel an: sieht die nach Heimlichkeiten aus?!“

Reinald kam dazu und fragte, ob denn Martha noch nicht fertig sei.

„Ja, die Damen! – Aber hör’ mal die Räubergeschichte, die sie Voigtstedt beim Frühschoppen aufgebunden haben!“ sagte sein Vater. Reinald hörte, und ein Ausdruck starker Verstimmung legte sich auf sein Gesicht. Obschon er sich einer großen Unruhe nicht erwehren konnte, sagte auch er, daß das Unsinn sei.

„Wir werden ja sehen heut’ abend. Wenn sie sich kennen, werden sie’s kaum verstecken können,“ meinte Voigtstedt.

„Du bist ein ungläubiger Thomas,“ schalt der Oberamtmann.

Nun erschienen alle Damen auf einmal. Frau Voigtstedt mit einem schweren lila Moirékleid, mit spitz angeschnittener Schleppe, die schon zwei Jahre keine Mode mehr war.

„Eine Frau von dem Aussehen und Alter der Ihrigen trägt in Berlin eine ausgeschnittene hellseidene Robe,“ sagte Sabine zu Voigtstedt, „Sie sollten es verbieten, daß Ihre Frau sich wie eine Sechzigjährige kleidet!“

„Wir sind aber nicht in Berlin!“ bemerkte der Oberamtmann.

Reinald war beglückt in den Anblick seiner Braut versunken. Sie hatte ein ausgeschnittenes, kurzärmliges Kleid aus rosa Tüll auf Seide an, dazu einen grünlichen Gürtel und künstliche weiße Rosen an der Brust und im Haar. Wegen des grünlichen Gürtels glaubte sie, mit ihrem Anzug auf der Höhe der Mode zu stehen. Die weißen Rosen verdarben aber alles und sahen zu ihrem blonden Kopf sehr fade aus. Dazu hatte sie vorn die von Sabine aus Rom mitgebrachte Brosche angebracht.

„Sehr schön! Sehr geschmackvoll!“ sagte Reinald bewundernd. Wohlgefällig bemerkte der Oberamtmann: „Was unsre Martha für’n weißen Speckbuckel hat.“ Und er klopfte ihr auf den Nacken. Sie kicherte. Auf ihren Oberarmen hinten hatte sie leider „Grütze“, und all die roten dicken Poren waren über dem Rand des langen Handschuhs sichtbar.

Die ganze Gesellschaft wurde in Tücher, Mantel und Galoschen gepackt. Man ging zu Fuß nach dem „Kronprinzen“. Es waren ja nur hundert Schritt.

Voigtstedts dankten noch tausendmal für den vergnügten Tag und baten, ja alle Sachen gut einzupacken, der Knecht hole sie nachher ab.

„Verwahrt euch nur gut für die Heimfahrt!“ rief der Oberamtmann noch besorgt oben von der Treppe hinter ihnen her, „und nicht wahr, Reinald, du bringst Susanne nach Haus und schließt auf! Die Lampe bleibt unten brennen!“

„Hu – das war ’n saurer Tag!“ stöhnte er nachher. „Gottlob, daß er überstanden ist! Alte, wir gehen bald in unsere Posen.“

Die Oberamtmännin und Sabine räumten die Tassen zusammen. Auch ihnen war, als sei ein Sturm verhallt. Plötzlich fiel dem Alten etwas ein.

„Keiner hat auf Susanne geachtet und ihr ein Wort über ihr Aussehen gesagt. Was hatte sie denn eigentlich an?“

Sabine lächelte ein wenig. Welch ein Kompliment für Susanne: über dem Staat der Voigtstedtschen Damen war ihr tadelloser Anzug nicht bemerkt worden.

„Sie ist nicht eitel. Beruhige dich nur, Papa, sie nimmt es nicht übel. Sie wird doch die Schönste sein.“

Die Alten gingen bald zu Bett. Sabine stand an ihrem Fenster und sah in die Winternacht hinein.

Drüben, der große Dachstuhl, der so mit langer gerader Linie und schräg abfallenden Seiten massig vor dem leuchtenden Nachthimmel stand, der gehörte zum „Kronprinzen“.

Davor noch ein dunkles Gehocke von niederen Stalldächern und Hinterflügeln. Auch ein kahler Lindenwipfel ragte dazwischen auf. Und irgendwo in diesen Höfen brannte ein stilles Licht, rot und trübe.

Das alles war, vor dem blausilbernen Himmel der Wintermondnacht, deutlich erkennbar.

Je länger Sabine hinausstarrte, um so schärfer sah sie.

Es war so ein dürftiges, reizloses, weltvergessenes Bild! Und so verschlafen und verschwiegen.

Die einsame Frau kam sich wie getrennt vor von Leben und Sonne. Für immer – –

Mit gierigem Ohr trachtete sie, etwas von der Musik zu hören. Vergebens, es war zu weit.

Dort freuten sich die Menschen. Es waren Freuden, die Sabine klein und lächerlich erschienen, die sie nicht hätte teilen mögen. Und dennoch neidete sie sie ihnen. Die standen doch alle im Genuß des Daseins. Die hatten Freuden und Kämpfe! Ja, selbst wenn sie Sorgen hatten – sie lebten doch darin, all ihre Kräfte übend – sie vegetierten nicht …

Und er war da! Er that, als nähme er teil an der Freude der anderen – –

Vielleicht that er es auch wirklich. Wer konnte das wissen? Vielleicht trat er, nachdem er von ihr geschieden, mit frohem Mannesmut in eine neue Epoche seines Daseins, darin er ein sonnenhelles, dauerndes Glück fand …

Sabine faltete in stummem Jammer die Hände.

Ihr Elend erdrückte sie. Und so seltsam klang ein Dichterwort in ihrem Gedächtnis nach, das sie einst gelesen. Es war gerade, als stehe jemand hinter ihr und raune es ihr ins Ohr:

„Doch mit dem Herzen,
Voll Liebe und Schmerzen,
Verglüh’ ich allein ….“

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Als Susanne am Arm des Herrn Voigtstedt den Ballsaal betrat, gleichsam im Gefolge der Frau Voigtstedt, die von einem der Vorstandsherren geführt wurde, fiel ihr erster Blick auf Achim von Körlegg, der mit Bläser zusammenstand und die Eingangsthür beobachtete.

Sie wurde rot. Achim und Bläser kamen gleich auf sie zu.

„Nanu – die Herrschaften kennen sich?“ fragte Voigtstedt und dachte: Na? schade, daß Deuben dies nicht sieht!

„Von einer Begegnung im letzten Manöver her – bei Schrimm,“ sagte Bläser. „Darf ich um den ersten Walzer bitten? Und darf ich einige Kameraden vorstellen?“

„Ach ja,“ bat Susanne aufrichtig, „wenn ich schon einmal hier bin, will ich auch gern tanzen. So vorurteilslos ist kein junges Mädchen, daß es sitzen bleiben mag.“

Bläser stürzte davon.

„Ich tanze nicht,“ sprach Achim, „darf ich um die Ehre bitten zu Tisch?“

Susanne strahlte.

„Wie, Sie tanzen nicht? Ein preußischer Leutnant und kein Tänzer?“ fragte Voigtstedt. „Gnädiges Fräulein, wollen Sie mit mir altem Knaben die Quadrille riskieren?“

Nun kam Bläser heran und stellte Kameraden vor. Er that, als sei er ein uralter Freund von Susanne und machte sich in einer so liebenswürdigen Weise wichtig und war so beflissen und verehrungsvoll, daß Achim ihm einmal im Vorbeigehen dankbar die Hand drückte.

Als Reinald die Tanzkarte seiner Braut, mit der er selbst natürlich alle großen Tänze tanzte, versorgt sah, dachte er daran, daß er sich um Susanne bekümmern müsse.

„Besetzt,“ sagte sie vergnügt.

Reinald, der nur noch eine Extratour einzeichnen konnte, sah lauter Offiziersnamen und darunter auch den Körleggs. Zu Tisch diesen. Er fragte mit finsterem Ausdruck:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 524. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0524.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2021)