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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

verzweifelte oft daran, immer und immer wieder dies selbe Stück hören zu müssen. Die schmeichelnd banalen Melodien blieben ihr in unerträglicher Weise im Gedächtnis haften und vermengten sich mit ihren todtraurigen Gedanken.

So flössen die Tage in melancholischer Friedlichkeit dahin.

Eines Nachts kam von Osten her mit schneidenden Winden auf einmal der Winter. Schnee trieb gepeitscht am Fenster vorüber, und als es gegen Mittag stiller wurde, fiel er sanft und unaufhörlich und deckte die Straßen und Dächer. Die Fassade des spitzgiebligen Hauses vom Nachbar Crolpa war beinahe anzusehen wie ein altes Gesicht mit einer weißen Haube herum.

Der Oberamtmann saß behaglich am Fenster. Das mochte er leiden, wenn die Welt so in stillem, weißem Schnee sich versteckte. Und für den Landmann war es auch gut.

„Morgen haben wir schönes Wetter. Da solltet ihr mal ein bißchen an die Luft,“ sagte er zu Susanne, „bisher wollt’ ich ja nichts sagen, bei dem Regen alle Tage! Aber die ewige Stubenhockerei taugt nicht. Ich mein’, Sabine wird eher magerer und blasser als wohler. Und wir leben doch so still und gemütlich und haben keine Aufregung. Und Sie selbst, Susannchen – Sie sind nicht mehr so frisch wie vor vierzehn Tagen. Ihre Mama kommt uns auf den Pelz. Sie müssen an die Luft.“

„Sabine mag nicht ausgehen und ich mag sie nicht verlassen.“

„Sie sind eine treue kleine Seele,“ sagte der Oberamtmann und sah ihr wohlgefällig in die klaren Augen.

Freilich wird Sabine magerer und bleicher und freilich werd’ ich weniger frisch, dachte Susanne, wenn man so die halben Nächte nicht schläft!

Alles, was am Tage zugedeckt bleiben mußte, gruben sie des Nachts aus.

Ruhelos wanderte Sabine hin und her. Hörend, mit all ihren Gedanken wach und interessiert, lag Susanne im Bett.

Die Kinder schliefen jetzt mit Lisbeth oben in der Schrankstube. So hatten die beiden Freundinnen die Nacht für sich, zu besprechen, was sie beide nie ermüdete, daran sie sich nie satt sprachen.

Sabinens Liebe und Sabinens Haß. Achims Recht und Achims Unrecht.

Einmal gestand Sabine es zu, vernichtet von her Macht det Thatsachen, daß der Mann, der ihren Gatten erschossen, in der That niemals ihrer Kinder zweiter Vater hätte werden können. Und dann war Achim der herrlichste Mann, und mit flammenden Augen rief sie, daß es wert sei, zu leben, um ihn still und von fern zu lieben, dann weinte Susanne vor Rührung und verstand sich ganz mit der Freundin.

Aber das andere Mal glomm der Zorn auf gegen ihn und sich. Sie schwor, ihn zu hassen. Nicht leben zu können, weil ein Mann sie geküßt, der nicht ihr Gatte wurde! Sie nannte ihn feig, herzlos, wankelmütig. Und dann richtete Susanne sich auf und verteidigte ihn mit feurigen Worten.

Der Gram und der Zorn waren häufiger als die gute Stimmung. Aber so oder so: Susanne sah, daß die Unglückliche sich aufzehrte. Oft erschrak sie über die Magerkeit ihrer brennenden Hand.

„Wenn ich dir doch nur Ruhe schaffen könnte,“ klagte sie.

Da gestand Sabine ihr, daß es wohl ein Mittel gebe, ihr die Ruhe, zurückzubringen.

„Geh du zu ihm,“ sagte sie, „fordere meine Briefe von ihm zurück. Ich habe eine schreckliche Vorstellung. Er wird mich bald vergessen – er hat es vielleicht schon! Er wird eine andere lieben! Er wird heiraten! Dann wird vielleicht eines Tages eine andere, die mich nicht kennt und nicht versteht, über diese Briefe kommen. Der Gedanke quält mich.“

„Du wirst ihn tödlich beleidigen mit solcher Zumutung,“ rief Susanne.

„Er hat mich auch tödlich beleidigt, als er meine Liebe zurückwies,“ sprach sie finster, den geheimsten Trieb verratend, der sie zu diesem Wunsch drängte – den Trieb, wieder zu schlagen, wo sie sich geschlagen wähnte.

„Schicke deinen Bruder!“

„Reinald einweihen? Damit er es Martha anvertraut?“ fragte sie.

„Das wird er nicht!“

„Männer können nicht schweigen, am wenigsten vor ihrer Braut. Da sind sie alle jammervolle Schwätzer.“

„Laß Onkel Fritz ihn schriftlich bitten,“ schlug Susanne vor.

„Nein! All dies sei mit Schweigen zwischen ihm und mir bedeckt. Zwei Menschen wissen nur um mein Elend. Du – mit der ich alles reden kann. Er – der mich mit Schweigen schont und versteht. Laß mir das! Das ist die einzige Wohlthat, die mir ward.“

„Aber ich kann doch nicht zu ihm gehen!“ rief Susanne. Sie zitterte vor dem Gedanken.

„Du mußt! Du hast mir versprochen, mir jeden Dienst zu leisten, den ich fordern würde. Es ist auch nicht um die Briefe allein. Du sollst ihm sagen, daß er fort von hier zu gehen hat. Er und ich sind zuviel in einer Stadt! Du siehst es ja: wir wagen uns nicht auf die Straße, aus Angst, ihn zu sehen. Er muß sich von hier versetzen lassen.“

So sprach Sabine, herrisch und entschlossen, jede Nacht, immer wieder.

Es war ihre fixe Idee, sie kam immer darauf zurück und forderte nur dies eine. Sie sagte, daß sie dann ruhig werden würde, ganz ruhig. Eher aber nie.

Durch das tägliche Reden fing Susanne an, die Ausführung für möglich zu halten. Nur ….

Alles Zagen, alle „wenn“ und „aber“ hatten einen innerlichen Grund. Die äußerlichen Umstände eines solchen Unternehmens schreckten sie nicht. Daß jemand sie beobachten, sich darum kümmern könne, wenn sie zu Achim von Körlegg ging, fiel ihr gar nicht ein. Sie war in Berlin aufgewachsen, wo man von seinem Nachbar nichts weiß und wo es vorkommen kann, daß man erst in der Zeitung liest, daß nebenan Mord und Totschlag war.

Es gab für sie und Sabine überhaupt in Mühlau keine Mühlauer. Es gab in der ganzen Welt nur einen Menschen und nur eine Angelegenheit.

Und beide hatten heimlich den verzehrenden Wunsch, genau zu wissen, wie Achim lebte, dachte, fühlte.

„Du mußt zu ihm gehen.“

„Ich kann es nicht.“

So hieß es täglich zehnmal.

„Wie soll ich seine Wohnung finden?“

„Ich begleite dich so weit, daß ich dir das Haus zeigen kann. Im Sommer hab’ ich oft hineinsehen können, wenn die Hausthür aufstand. Da ist ein Flur mit roten Ziegelsteinen gepflastert. Links eine Thür: dort wohnt die Advokatenwitwe Leermann, seine Wirtin. Rechts eine Thür: die führt in sein Wohnzimmer. Du kannst gar nicht irren.“

Und endlich versprach Susanne, hinzugehen; sie gab das Versprechen zum Schein, wie man einem Kranken alles zugiebt und nicht mehr widerspricht.

Dann aber sah sie, daß Sabine von Stund’ an ruhiger, wohler, zuversichtlicher wurde. Und da glaubte sie, es sei ihre Pflicht, Selbstüberwindung zu üben und wirklich den Gang zu wagen, obschon ihr war, als würde sie die Aufregung, Achim wiederzusehen, nicht überleben.

Es wurde beschlossen, daß Susanne am nächsten Tag zwischen Fünf und Sechs gehen solle.

Aber den Tag kam die Doktorin Sebold. Und am folgenden Reinald. Und dann war Trioabend. Die Freundinnen verzehrten sich vor Ungeduld.

Und an diesem Tage kam der Oberamtmann mit einem Vorschlag. Am achtzehnten Dezember war Ressourceball. Er war seit seinen jungen Jahren Mitglied der Ressource, einer geselligen Vereinigung, welcher die Honoratioren von Mühlau, die Elite der Gutsbesitzer aus der Umgegend und die Offiziere des Regiments angehörten. Obschon Oberamtmanns seit Jahren nicht mehr zu den Festlichkeiten gingen, war die Zahlung des Mitgliederbeitrages doch eine von jenen Ausgaben, von denen der Oberamtmann sagte: man kann nicht gut umhin. Nun hatte er mit seiner Frau besprochen, daß man „Susannen doch einmal etwas bieten müsse.“

Sabine ihrerseits, als ihre Eltern bei Tisch damit herausrückten, lehnte gleich für sich rundweg ab.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0518.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)