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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Teilnahme und alles Schöne, das der alte Herr ihr zu bieten bestrebt war, doch dankbar eine blasse Anteilnahme zu zeigen.

Sie fragte Susanne, ob sie gesprochen habe, und Susanne sagte: „Nein.“ Sabine glaubte ihr, denn sie log sonst nicht, die absolute Wahrhaftigkeit war ein hervorstechender Zug ihres Wesens. Aber diesmal log Susanne doch, und zwar auf Geheiß von Onkel Fritz.

Wie hätte Susanne ihm gegenüber schweigen können! Man mußte so weltabgewandt, so ganz in sich selbst versunken sein wie Sabine, um das überhaupt für möglich zu halten. In einer so engen, kleinen Vereinigung, wie drei Personen zusammen auf Reisen sie bilden, kann nicht einer von diesen dreien in eine plötzliche, furchtbare Veränderung des ganzen Wesens verfallen, ohne daß die andern beiden auf den Grund der Dinge zu sehen trachten. Einen Tag lang glaubte Onkel Fritz an die „Unpäßlichkeit“, aber schon am zweiten Tag, als er Sabine wiedersah und sie beobachtete, sah er, daß eine seelische Qual sie marterte. Er stellte Susanne zur Rede. Da war etwas vorgefallen; man litt und man vertraute sich ihm nicht an, der vielleicht helfen könne?!

„Ach nein, Onkel Fritz, da kannst du auch nicht helfen,“ sagte Susanne in Thränen ausbrechend. Und sie erzählte alles, wie es gewesen und geworden, von jener ersten Begegnung der beiden am Grabe Zeutherns.

Der alte Herr hörte zu, den Ellbogen auf dem Tisch, die Hand vor der Stirn, so daß sie ihm die Augen überschattete. Susanne ängstigte sich sehr, Onkel Fritz möge böse werden, obschon sie sich eigentlich nicht erinnerte, ihn jemals heftig gesehen zu haben.

Reuevoll gestand sie ein, daß sie gleich damals bei der Begegnung im Manöver hätte sagen müssen: Herr von Körlegg ist der Gegner Zeutherns gewesen. Aber schon damals habe ihr das Bewußtsein, daß Sabine ihn liebe, die Zunge gelähmt.

Aber Onkel Fritz wurde nicht böse. Er streichelte Susanne das Haar und sagte merkwürdigerweise:

„Armes Kind – armes Kind!“

Darauf weinte Susanne von neuem und viel gramvoller, ohne zu wissen warum. Denn sie – sie hatte doch nichts verloren! Man kann doch nicht verlieren, was man nie besessen hat?!

Dann saß Onkel Fritz lange und sah vor sich hin. Sein Gesicht sah noch ein wenig stiller und bleicher aus als sonst. Aber endlich spielte doch das bekannte milde Lächeln, das Susanne so an ihm liebte, um seinen Mund. „Es war ganz recht so, daß ihr schwieget,“ sprach er dann, „die Leidenschaft soll nicht gleich zur Instanz der Weisheit laufen und sie um Rat fragen. Das muß durchgekämpft werden. So oder so. Wen es trifft, der halte Stand, zum Siegen oder Sterben. Flucht? Nein, Flucht giebt es da nicht. Die Leidenschaft mit ihrem rasenden Flug überholt ihr Opfer doch.“

Susanne stand in ehrfürchtigem Schweigen. Sie fühlte, daß er rückwärts denken mochte, an jenes geheimnisvolle Ereignis seiner Jugend, das sein Leben in Schatten getaucht.

Auch that es ihrem Herzen wohl, daß er die Leidenschaft als etwas ansah, dem man, wenn es über einen kommt, nicht kampflos zu entrinnen vermag. Das entlastete Achim vollends. Ja, er hatte standgehalten. Aber er hatte gesiegt über sich selbst.

„Nun müssen wir Sabine helfen – tragen helfen, meine ich,“ sagte der alte Herr, „du mußt ihr nicht eingestehen und auch auf Fragen nicht zugeben, daß ich eingeweiht bin. Eine Lüge, welche die einfachste Zartheit gebietet.

Sabine soll nicht vor mir erröten. Und wie ich sie kenne, würde sie es. Sie ist sehr stolz. Das liebe ich auch an ihr. Und gerade wenn ein so stolzes Herz mit so elementarer Gewalt einem Ziel zustrebte, ist der Rückschlag zumeist furchtbar.“

„Ich werde ganz gewiß über unser Gespräch schweigen. – Ach, Onkel Fritz, glaubst du nicht, daß sie allmählich vergessen und überwinden wird?“

Er schüttelte leise das Haupt.

„Nein,“ sagte er, „ich glaube überhaupt nicht an die Möglichkeit, daß man Erlebtes und Erlittenes jemals vergessen kann. Nur wechselt das: bald stehen wir über, bald unter unseren Erinnerungen. Unter Menschen, die großartig beanlagt, heiter, interessant sind, wachsen wir über das Erlittene empor, und es scheint uns nur die Prämisse gewesen zu sein zu erlangter Reife. Ebenso in einer großen und schönen Natur. Aber wo weder Menschen noch Natur unsern individuellen Bedürfnissen zusagen, wachsen in unserer Erinnerung unsere Erlebnisse zu Riesen empor, die mit Keulen unsern Lebensmut totschlagen.“

„Wie viel mußt du gelitten haben, um so alles zu erkennen,“ wagte Susanne leise zu bemerken.

Er machte eine kurze, unwillige Bewegung und sprach dann weiter: „Großartige Menschen können wir ihr nicht bieten. Aber große Natur. Wir wollen mit noch mehr Umsicht unsere Reisetage ausnutzen. Nur fürchte ich: es ist noch zu frisch, das Leid.“

Da konnte Susanne sich doch nicht mehr halten. Sie fiel ihm um den Hals und rief enthusiastisch:

„Du bist ein großartiger Mensch, du!“

Und er schüttelte lächelnd den Kopf.

Sabine wurde mit einer Sorgfalt behütet und gepflegt, die sie gar nicht einmal immer bemerkte.

Es schien geradezu, als habe der alte Herr nun einen Lebenszweck gefunden. Kein Vater konnte zärtlicher sein. Aber über das Väterliche hinaus war noch etwas anderes in seinem Wesen, etwas Ritterliches und doch zugleich Zurückhaltendes.

Einmal, als seine Art wie unendliche Wohlthat auf Sabine wirkte, rief sie aus: „Wie soll ich noch leben ohne Ihre mich so grenzenlos verwöhnende Gesellschaft!“

Und da nahm er die Gelegenheit wahr, ihr von einem Winteraufenthalt an der Riviera zu sprechen. Sie lehnte es rundweg ab. Sie durfte ihre Wünsche ja gar nicht erst befragen. Sie fühlte gleich, daß ihre Eltern nicht beistimmen würden. Auch glaubte sie, es würde den alten Herrn zu viel Opfer an Bequemlichkeit kosten. Außerdem war es undenkbar, die Kinder nachkommen zu lassen. Es schien aber unmöglich, diese für so lange zu verlassen.

Dann schlug der alte Herr Berlin vor, und Sabine zeigte einen förmlichen Fiebereifer, darauf einzugehen und die Möglichkeit der Ausführung zu erwägen. Sie flehte Onkel Fritz an, mit nach Mühlau zu kommen, er allein konnte den Eltern das vorstellen und klarmachen.

Sie belebte sich etwas, seit dieser Plan festgehalten wurde.

Nach Mühlau mußte sie noch einmal, um eines bestimmten Zweckes willen – das stand als fixe Idee bei ihr fest. Aber da bleiben, da wohnen, ihm täglich an allen Straßenecken begegnen – – nein, nein. Eines Tages vielleicht mit einer Frau, seiner Frau am Arm? Nein, nein!

In leidenschaftlicher Exstase sagte sie: „Wenn ich in Mühlau bleiben muß, werde ich noch wahnsinnig!“

Da setzte sich Onkel Fritz hin und schrieb heimlich an den Oberamtmann, damit der sich an den Gedanken gewöhne, schon so hineinlebe, daß kein Widerstand reize und errege. Das war ein falscher Zug, den der alte Herr da that. Er kannte den Oberamtmann und dessen Frau nicht genug. Durch dieses Vorbereiten gab er ihnen nur Gelegenheit, all ihre kleinen Vorurteile und ihre Sparsamkeitsgelüste in Bereitschaft zu setzen, wie man Waffen vor dem Gefecht noch besonders blank putzt. Ueberrumpeln hätten sie sich vielleicht lassen. Da hätte es den Oberamtmann doch vielleicht momentan gestachelt, nicht minder generös zu sein als Onkel Fritz; oder Sabinens Anblick und Bitten hätten ihn und die Mutter gerührt. – Onkel Fritz war es so gewöhnt, Autorität zu sein, und da er am Schluß seines Briefes noch besonders unterstrichen betont hatte: „Sabine kann nicht in Mühlau leben!“ war für ihn die Sache schon innerlich entschieden. Er ahnte gar nicht, daß er für Deubens nicht im mindesten eine Autorität war. Im Gegenteil: seine offene Hand war dem Oberamtmann etwas, das er fast geringschätzte. Und was Onkel Fritz sonst besaß und was ihn bei vielen zur Autorität machte, seine reife Milde, sein ethisches Erkennen – dafür hatten der Oberamtmann und seine Frau nicht einmal von fern Schätzung; sie taxierten es weder hoch, noch gering, sie taxierten es gar nicht; es war für sie gar nicht da. –

Mit gutem Mut fuhr der alte Herr dem Norden zu. Vor seinem Geiste standen schon inhaltreiche Wintertage. Er hoffte, Sabine täglich zu sehen; sich ihren Kindern zu widmen; Sabine ins Theater zu führen; ihren Tisch mit Büchern, Journalen, Blumen täglich neu zu bedecken; ihr den einen oder anderen Menschen zuzuführen. Einmal mußte, mußte doch wieder ein

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 491. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0491.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2021)