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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nachdem dieser Brief gelesen und wieder gelesen worden war, brach die Oberamtmännin in Thränen aus. Der Oberamtmann saß konsterniert.

Im Zimmer wurde es dunkel. Guste kam mit der Lampe und fand ihre Herrschaft in sichtbarer Aufregung.

„Sind Sie krank, Frau Oberamtmann?“ fragte sie.

„Denk dir, Guste, Frau von Zeuthern ist sehr elend,“ schluchzte die Oberamtmännin.

„Aber, nee – so was! Zu’s Verjnügen ausjereist und denn krank!“ sagte Guste mehr objektiv als teilnehmend.

„Wo sind die Kinder?“ fragte der Oberamtmann seufzend.

Sein Herz war voll Mitleid und erhöhtem Verantwortlichkeitsgefühl, als er in diesem Augenblick der Kleinen dachte.

„Hinten. Lisbeth schneid’t sie Schlitten aus alte Spielkarten. Davon sind sie so still.“

„Alte,“ sagte der Oberamtmann, „ich hab’ eine Idee. Guste könnte mal eben nach Sebold längs laufen und ihn herbitten. Um diese Zeit ist er ja meist zu Hause.“

„Ach ja. Nicht wahr, Guste? Es sind nur fünf Minuten,“ sprach die Oberamtmännin fast bittend, denn sie wußte, wenn Guste noch nicht ganz mit ihrer Küche fertig war, ging sie sehr ungern davon.

Aber diesmal brummte Guste nicht, sondern ging.

„Malaria, das ist natürlich eine Krankheit, die Sebold in der Praxis noch nicht vorgekommen ist. Aber er muß uns doch etwas darüber sagen können,“ bemerkte der Alte.

Die Frau war ganz klein und still und hörte nur zu. Wenn ernste Dinge vorfielen, kam doch so eine Art von Schutzbedürftigkeit über sie und sie ließ dann ihren Mann reden, war sogar manchmal überrascht, daß er Kenntnisse hatte, die sie nicht bei ihm vermutete, Urteile fällte, die ihr imponierten.

Während sie nun die Rouleaus herabließ und der Lampenglocke den grünen Schirm überstülpte, zündete sich der Oberamtmann seine Pfeife an und nahm seinen Abendplatz in der Sofaecke ein.

„Auch im Holsteinischen, in der Marsch kommt die Malaria vor,“ fuhr er fort, „und die meisten Afrikareisenden sterben daran. Die Menschen werden gelb und mager dabei. Klimawechsel ist das beste. Ich begreife Onkel Fritz nicht, daß er nicht stantepede mit Sabine zurückgereist ist.“

Die Oberamtmännin schloß resigniert ihr Klavier. Heute wurde nichts aus dem Triospiel. Das ahnte ihr schon.

„Na, du merkst doch, daß Onkel Fritz sehr gegen Mühlau eingenommen ist,“ sagte sie, „nicht mal jetzt will er sie hier lassen, wo sie doch soweit gut zu Wege war, solange sie hier war.“

„Er will sie nicht hier lassen?“ wiederholte der Oberamtmann; „da haben wir ja noch drüber mitzureden; bin ich der Vater oder ist er es? Laß man erst Sebold kommen.“

Und Doktor Sebold kam.

Nun saßen sie zu dritt um den runden Tisch, im friedevollen Licht der grünbeschirmten Lampe. Aus der Pfeife des Oberamtmanns kräuselte in leichter, gewundener Linie der Rauch auf. Die Finger der Frau bewegten sich emsig über einem halben Strumpf, und manchmal blinkten die Nadeln, wenn sie gerade durch den Lichtschein geführt wurden. Auch Sebold nahm gern eine Cigarre und ließ ab und zu sehr bedächtig die Asche in den kleinen Kupferbecher fallen, den die Oberamtmännin vor ihn auf die weiße Theeserviette gestellt hatte. Von der Straße herauf drang in großen Zwischenräumen zuweilen ein klapperndes Wagenrasseln oder das Klingeln einer Hausthür.

Und in dieser friedlichen, kleinbürgerlichen Stille saßen sie und sprachen sehr eingehend über Sabine und ihr Leiden.

„Ich bitte Sie, lieber Oberamtmann: eine nervöse Frau und Berlin!“ sagte Sebold.

„Nicht wahr!?“ fragte die Mutter, dazu nickend.

„Onkel Fritz meint ja aber, da ist alles: Stille, wenn man will, und Zerstreuung, wenn man will, und besonders Aerzte,“ bemerkte der Oberamtmann mit einem humoristischen Zwinkern seiner Augen.

„Die Berliner Aerzte!! Na …“ sagte Sebold mit einem schnellen Augenaufschlag zum Plafond hinauf, wo so freundlich der weiße vibrierende Lichtkreis stand, den die Lampe hinaufsandte.

„Man liest ja immer viel,“ sprach der Oberamtmann.

„Reklame!“ betonte die Frau mit einer gewissen mitleidigen Verachtung.

„Jedenfalls gratuliere ich Ihnen im voraus zu der Rechnung, wenn der Herr Osterroth Ihre Tochter von einem Modearzt behandeln läßt,“ meinte Sebold. „Diese Herren sehen und sprechen einen Patienten eine Viertelstunde und wollen dann besser wissen, was ihm dient, als unsereiner, der den Patienten von Kindheit an kennt. Die Konstitution des Patienten genau kennen … das ist die Hauptsache!“

Sie sprachen hin und her und kamen zu dem Schluß, daß Mühlau ein unübertroffener Aufenthalt gerade gegen Malaria sei, ebenso für einen Nervösen. Das Klima war trocken, das Leben still. Dazu war Sebold hier, Sebold, der Sabine schon geimpft hatte und sie seit ihrem ersten Lebenstag kannte, denn auch draußen auf Heinsdorf war Sebold schon der treue Hausarzt der Familie Deuben gewesen.

Sie klammerten sich an das Klima und die Stille von Mühlau und an das Vertrauen zum Doktor Sebold, um das nicht auszusprechen, was außerdem sehr peinlich und ärgerlich ihre Gedanken bewegte.

Wie dachte sich Onkel Fritz das: in Berlin wohnen? Sollte Sabine auch da mit den Kindern sogar sein Gast sein? Das ginge denn doch über das hinaus, was man annehmen konnte.

Der Oberamtmann war im ganzen nicht fürs Nehmen. Geschenke empfangen ist manchmal ein teures Vergnügen, das nötigt zum Revanchieren. Sollte der Oberamtmann es bezahlen? Man brachte gern jedes Opfer für die Tochter, gewiß. Aber wenn man ein solches brachte, mußte man doch vorher wissen, daß das Geld nicht unnütz hinausgeworfen werde. Und sie versprachen sich nichts von Berlin, gar nichts.

„Ich als Mutter bin doch auch die nächste dazu, mein Kind zu pflegen, wenn es leidend ist,“ sagte die Oberamtmännin weinend und legte ihr Strickzeug hin, um ihr Taschentuch aus ihrer Kleidertasche hervorzusuchen.

Dabei brachte sie zwei kleine Aepfel heraus, die sie heut’ mittag in der Speisekammer für Leo und Milly eingesteckt, weil sie eben eine so drollige, kleine, ebenmäßige Façon hatten, darüber mußte sie nun durch ihre Thränen lachen.

Man kam auf andere Gedanken, und Sebold erzählte eine Geschichte von einer Dame, die einen Kondolenzbesuch machte, ihr weißes Taschentuch herauszog, um Mitleidsthränen zu trocknen, und dann sah, daß es ein dreieckiges Nachttuch ihres Mannes war, worüber alle vor Lachen fast gestorben waren.

Turibius und Kolvater erschienen und nahmen mit großen, lauten Anteilsworten und Gebärden die Nachricht entgegen. „Ach, das war ja ein Malheur ohne gleichen!“ – „Krank zu werden auf einer Vergnügungsreise!“ – „Gewiß hatte der alte Herr den Damen zu viel zugemutet; so ein Großstädter hat ja keine Nerven!“ – „Sie wird sich mit Essen verdorben haben. Die alte Oelkocherei in Italien, die ist nicht für jeden Magen!“

Noch einmal hielt Sebold einen Vortrag über Malaria, ihre Folgen und die beste Behandlung während der Rekonvalescenz. Dann empfahl er sich.

Auch Turibius und Kolvater wollten gehen. Etwas zögernd machten sie den Vorschlag, den sie für schicklich hielten.

„Aber nein,“ sprach der Oberamtmann mit Lebhaftigkeit, „das sehe ich nun nicht ein. Warum willst du dir die kleine Zerstreuung nicht gönnen? Sabine hilft es nicht, wenn du hier sitzest und weinst, und dir macht es doch mal Spaß, zu spielen.“

„Meinst du?“ fragte die Frau und sah in Zweifel und Wunsch die beiden musikalischen Freunde an. „Ich habe aber auch gar keine Brötchen vorbereitet über all der Aufregung.“

„Ih was, Guste deckt für uns alle vier heut’ mal im Eßzimmer auf. Die Herren nehmen vorlieb. Wir haben einen prachtvollen Schinken aus Heinsdorf bekommen. Und Guste ist ja groß in Rühreiern. Und was meinen Sie, Herr Musikdirektor, zu einem Grog nach dem Abendbrot,“ sagte der Oberamtmann wohlgelaunt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 487. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0487.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)