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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Sabine so glückliche, ausführliche, schöne Briefe, voll von Beschreibungen, geschickt. Sie genossen alles förmlich mit. Und es war auch eine große Genugthuung, diese Briefe an den Trioabenden vorzulesen. In Mühlau gehörte es noch nicht zu den alltäglichen Ereignissen, daß man eine vielwöchige Reise nach Italien machte. Turibius und Kolvater hielten die ganze Stadt auf dem Laufenden über die Reise der schönen Frau von Zeuthern.

Die große und etwas prahlerische Mitteilsamkeit, welcher sich der Oberamtmann und seine Frau hingegeben hatten, rächte sich nun.

Fast mit Unbehagen sahen sie dem heutigen Trioabend entgegen. In der vorigen Woche hatten sie davon gesprochen, daß „Sabinens Briefe zu Reinald hinausgeschickt worden seien.“ Das Mal vorher war von „Postunordnungen“ die Rede. Was sollte man heute sagen?

Sklaven der Kleinstadt, wie sie waren, fürchteten sie gleich immer: „man könne etwas denken!“ Und seufzend setzte sich die Oberamtmännin an ihr Klavier, um noch vorher ihren Part durchzuspielen.

Der alte Mann nahm seinen Beobachterposten am Fenster ein.

Ein Weilchen klang der Klaviervortrag, einer stammelnden, unvollkommenen Sprache gleich, durch das Zimmer. Die Oberamtmännin zählte laut. Auch ihre vieltaktigen Pausen.

„Bei Küps läuft es heute mal wieder toll,“ sagte der Alte, „seit ich hier sitze, sind schon an die fünf oder sechs Kunden dagewesen.“

Antwort verlangte er nicht auf seine Bemerkungen.

„Donnerwetter! Crolpa seine Frau mit’n Federhut. – Herrjes – ’n neuen Wintermantel hat sie auch!“

Den mußte die Oberamtmännin sehen. Sie eilte ans Fenster. „Ja. Wahrhaftig schon wieder. Alle Jahr einen! Na, wenn Crolpa es kann! Wo sie wohl hin will?“

Und Kopf an Kopf sahen die beiden Alten der Frau des Ackerbürgers Crolpa nach, ihre Stirnen neugierig an das Fensterglas drückend.

Drüben trat eben der Postbote aus Küps’ Hausthür.

„Na nu – Buller hat sich woll verspätet heute. Haben Sie was, Buller?“

Der Briefbote konnte das natürlich nicht hören, aber er guckte von freien Stücken herauf, sah den Oberamtmann und nickte verheißend.

„Er kommt über die Straße. Er hat was,“ sagte die Frau und ging ihm bis auf den Flur entgegen.

Eine Postkarte lesend, kam sie langsam wieder herein und trug im Gehen das Gelesene laut vor: „Liebe Mama! Wir sind soeben auf unserer Rückreise in Genua angekommen. Es ist hier sehr kalt und windig. Daß es Euch gut geht, freut mich. In kurzer Zeit sind wir wohl zurück. Ich telegraphiere noch. An Papa viele Grüße.   Deine Sabine.“

Obgleich es vorgelesen war, reichte die Oberamtmännin die Karte noch ihrem Mann. Er setzte den Kneifer auf und las nochmal selbst.

„Ja,“ sagte er, „richtig aus Genua.“

Sonst war ja auch eigentlich nicht viel zu der Karte zu sagen.

„Daß es da aber kalt ist! Das müssen wir doch Kolvater erzählen.“

„Und hier ist noch was!“

„Was denn? Auch ’n italjänsche Freimarke! I, und ’ne fremde Schrift!“

Anstatt den Brief zu öffnen, zerbrachen sie sich noch einige Minuten den Kopf, wer ihnen aus Italien schreiben könne, denn Onkel Fritz oder Susanne hatten doch keine Veranlassung dazu.

„Na, woll’n mal sehn,“ meinte der Alte schließlich, öffnete, entfaltete den Bogen und las zunächst am Ende die Unterschrift: „Fritz Osterroth.“

„Siehst du. Das sagte ich gleich!“

„Aber keinen Ton hast du davon gesagt.“

„Lies nur, lies nur,“ drängte sie, doch noch mehr neugierig als rechthaberisch.

  „Hochverehrter Herr Oberamtmann!

Sie waren so gütig, mir Ihre Frau Tochter bis zum ersten November anzuvertrauen. Nun ist es schon der fünfzehnte geworden und wir befinden uns immer noch in Italien. Auch tritt die Notwendigkeit an mich heran, Ihnen zu gestehen, daß ich Ihnen Ihre teure Sabine nicht so frisch und wohl zurückbringe, als meine herzliche Hoffnung war, es zu können.

Die ersten vier Wochen unserer Reise vergingen in Fröhlichkeit und Gesundheit. Es beglückte mich, damals zu sehen, wie herrlich Ihre Frau Tochter aufblühte, wie eifrig und klug sie alles in sich aufnahm, was uns die Gegenden und die Städte, welche wir sahen, Neues zeigten.

Aber in den allerersten Tagen unseres römischen Aufenthalts ward Ihre Frau Tochter von einem heftigen Malariaanfall betroffen. Zwar ist diese Krankheit ganz verschwunden und ihr Zustand völlig fieberfrei. Allein eine nervöse Depression ist doch zurückgeblieben. Immer hoffte ich, daß der Wechsel der Scenerie günstig einwirken werde. Allein, in völliger Teilnahmlosigkeit hat unsere liebe Sabine Rom, Neapel, Capri u. s. w. an sich vorbeiziehen lassen.

Meine Hoffnung, daß sich Stimmung und Zustand bessern möchten, verführte mich, Ihnen dies bis jetzt zu verschweigen. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, wenn die Dinge besser werden konnten, ohne Sie erst in Mitleidenschaft zu ziehen.

Lassen Sie mich Ihnen aber aufs nachdrücklichste sagen, daß von einer Gefahr nicht die Rede ist. Es handelt sich um die Nerven. Man nennt das für gewöhnlich: nur Nerven. Dieses ‚nur‘ ist mir immer ein Aergernis. Denn mit kranken Nerven leiden wir mehr und machen andere mehr leiden als mit akuten, organischen und in bestimmter Zeit wieder heilenden Erkrankungen.

Ich habe unserer teuren Sabine vorgeschlagen, den Winter an der Riviera zu verbringen. Zwar hat meine Susanne es sich vorgesetzt gehabt, bereits für den ersten Januar eine Stellung zu suchen, wo sie ihre so eifrig erworbenen Fähigkeiten verwerten kann. Aber sie ist bereit, die Ausführung ihrer Pläne bis Ostern zu verschieben, um sich ganz ihrer geliebten Freundin zu widmen. Und auch ich dachte daran, nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin, der für meine Angelegenheiten nötig wäre, mich den jungen Damen zuzugesellen. Allein Ihre Frau Tochter hat es abgelehnt. Mir scheint, sie fürchtet, Ihre Billigung dazu nicht zu erhalten.

Sodann habe ich vorgeschlagen, daß Sabine für den Winter mit ihren Kindern nach Berlin übersiedeln möge. Vergeben Sie mir die Offenheit, allein es erscheint mir unmöglich, daß eine junge Frau, deren Nervendepression an Schwermut grenzt, in dem stillen Mühlau leben soll.

In Berlin haben wir alles: hervorragende Aerzte, Stille, Anregung. Jedem Bedürfnis kann jeden Augenblick entsprochen werden. Und ich würde mich ganz und gar und in jeder Beziehung in den Dienst Ihrer Frau Tochter, meiner lieben Nichte, stellen.

Zu diesem meinem zweiten Vorschlag hat Sabine sich nicht ablehnend verhalten. Er schien ihr zu gefallen. Sie erwog ihn. Aber sie erwähnte öfters Ihrer und scheint zu glauben, daß Sie dagegen sein würden.

In jedem Falle, meinte sie, müßte ich dies mit Ihnen mündlich besprechen. So habe ich mich denn entschlossen, Ihnen Frau Sabine selbst zu bringen. Aber ich schreibe Ihnen dies vorher, hinter ihrem Rücken, um Sie dringlich zu bitten, Ihre Vorurteile gegen eine derartige Uebersiedelung Sabinens nach Berlin zu überwinden.

An meiner ernsten Teilnahme für Ihre Frau Tochter werden Sie nicht zweifeln; ich bitte Sie, auch nicht an meinem Verständnis für ihr Leiden zu zweifeln. Und aus Teilnahme und Verständnis heraus sage ich: Sabine kann nicht in Mühlau leben.

Ich bitte Sie, mir den Empfang dieses Briefes mit einem Wort nach München, Hotel Vier Jahreszeiten, bis zum 20. November zu bestätigen. Am 22. d. mit dem Mittagszuge kommen wir in Mühlau an.

Mit den verehrungsvollsten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin bin ich

  Ihr ergebenster

  Fritz Osterroth.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0486.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)