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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

zerrüttete Nervensystem regeneriert, die Energie und die Widerstandskraft belebt und gefestigt werden sollen.

Amerika gebührt das Verdienst, die Einrichtung von Trinkerheilanstalten zuerst angeregt zu haben, und zwar war es ein Arzt, Dr. Benjamin Rush, welcher im Jahre 1809 die Ansicht aussprach, daß Trinker Kranke seien, die zu ihrer Heilung besonderer Anstalten bedürften. Doch dauerte es noch beinahe 50 Jahre, ehe in Boston, im Jahre 1857, die erste (staatliche) Trinkerheilanstalt eröffnet wurde. Seitdem sind in den verschiedenen Staaten Nordamerikas etwa 50 Trinkerasyle entstanden, die meisten allerdings von privater Seite.

Auch die englischen Trinkerasyle, von denen das erste 1852 gegründet wurde, sind alle Privatanstalten. In Frankreich und Oesterreich ist man in den allerletzten Jahren mit der Gründung von öffentlichen Trinkerheilanstalten vorgegangen.

Die deutschen Trinkerheilanstalten, welche fast ausschließlich Wohlthätigkeitsanstalten und von Geistlichen oder religiösen Genossenschaften gegründet und geleitet sind, datieren weiter zurück. Die älteste und bedeutendste ist Lintorf am Rhein. Sie ist überhaupt das älteste aller Trinkerasyle. Sie wurde im Jahre 1851 durch das Diakonissenhaus in Duisburg gegründet, zunächst allerdings nicht nur für Trinker, sondern als Rettungshaus für gesunkene und verkommene Individuen, welchen letzteren später nach trüber Erfahrung die Pforten verschlossen wurden. Die Anstalt enthält 25 Plätze, der Pensionspreis beträgt 150 bis 450 Mark jährlich. Im Jahre 1879 kam dazu das Haus Siloah für Trinker der besseren Stände, auch mit 25 Plätzen (Pensionspreis 1500 und 1800 Mark jährlich). Die übrigen Asyle sind alle erst nach 1880 gegründet, und zwar 1882 Sophienhof bei Tessin in Mecklenburg von Pastor Neuck und Freiherrn v. d. Oertzen mit 12 Plätzen (150 Mark jährliche Vergütung), 1886 Niederleipa bei Jauer in Schlesien mit 21 Plätzen (250 bis 400 Mark jährlich), 1887 Salem in Holstein vom Landesverein für innere Mission mit 25 Plätzen (3 Klassen: 250, 500 und 750 Mark), 1888 Friedrichshütte, Wilhelmshütte und Eichhof bei Bielefeld von Pastor v. Bodelschwingh (1 bis 1,50 Mark für den Tag, in Eichhof für wohlhabende Kranke 1700 Mark jährlich und darüber), im Jahre 1889 Klein-Drenzig bei Guben vom Provinzialverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke (600 Mark jährlich), 1892 Stenz bei Königsbrück im Königreich Sachsen (400 Mark jährlich), Sagorsch bei Rahmel, Westpreußen (3 Klassen: 350, 500 und 1000 Mark) und Karlshof bei Rastenburg in Ostpreußen, 1893 Brückenhof bei Frankfurt a. M., schließlich ganz neuerdings (1898) der Oejendorfer Hof bei Schiffbek, das einzige öffentliche Asyl, das unter ärztlicher Aufsicht steht (Dr. Nonne in Hamburg), und das am 1. Dezember 1898 eröffnete „Pommersche Trinkererrettungshaus“ in Elisenhof bei Pollnow (300 bis 500 Mark jährlich). In Aussicht genommen und bereits beschlossen ist die Errichtung einer öffentlichen Berliner Trinkerheilanstalt für 50 Kranke von dem Berliner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke auf einem 150 Morgen großen Grundstück bei Fürstenwalde (Kostenanschlag 140 000 Mark) und die Errichtung einer katholischen Trinkerheilanstalt bei Werden im Landkreise Essen durch den Kamillianerorden, während der Dresdner Zweigverein des Deutschen Vereins gegen den Mißbrauch geistiger Getränke die Errichtung einer öffentlichen Heilstätte für Trunksüchtige aller Stände in Dresden plant.

Neben diesen im gewissen Sinne öffentlichen Asylen giebt es noch mehrere nur für die wohlhabenden Stände bestimmte und von Aerzten geleitete Privatanstalten: die älteste ist die von Dr. Schmitz in Bonn, dann folgen die von Dr. Römer in Elsterberg bei Zwickau (Kgr. Sachsen), von Dr. Smith zu Schloß Marbach am Bodensee, von Dr. Fürer in Rockenau bei Eberbach in Baden, von Dr. Colla zu Finkenwalde bei Stettin (Sanatorium Buchheide) und von Dr. Silberstein in Hamburg (Sanatorium Barmbeck). Dazu kommen schließlich noch einige neuerdings gegründete Kurpensionen, die des Rittergutsbesitzers Smith auf Neudorf am Schallsee in Lauenburg, die Pension für Alkoholkranke zu Barghorst bei Ahrensbök im Amte Eutin (Fürstentum Lübeck) und Villa Margaretha in Nesse bei Loxstedt (Hannover), letztere beide unter ärztlicher Leitung. Alle diese Asyle sind nur für Männer bestimmt. Trunksüchtige Frauen finden Aufnahme im Diakonissenhaus zu Borsdorf bei Leipzig, in der Heimstätte für weibliche Alkoholkranke zu Bonn von Frl. B. Lungstreß (1. Klasse 5 Mark, 2. Klasse 2 bis 3 Mark täglich), im Elisenheim in Himmelsthür von Hildesheim, sowie im Hause des Dr. med. Schomerus zu Walsrode (Hannover). Eine besondere Erwähnung verdienen noch die trefflich eingerichteten und geleiteten schweizer Asyle, vor allem die 1889 mit Unterstützung der Regierung gegründete Trinkerheilanstalt Ellikon im Kanton Zürich mit 40 Plätzen, dann Nüchtern im Kanton Bern mit 20 Plätzen, Trelex im Kanton Waadt mit 22 Plätzen, während für die Kranken der besseren Stände neuerdings das unter ärztlicher Leitung stehende Abstinenzsanatorium Schloß Hard in Ermatingen am Untersee mit 30 Plätzen (Verpflegung 6 Franken für den Tag, Zimmer 2 bis 20 Franken) gegründet worden ist.

Wenn auch in den unter geistlicher Leitung stehenden Asylen religiöse Einwirkungen und religiöse Uebungen naturgemäß den Mittelpunkt der Behandlung bilden[1], so gelten doch auch hier wie in den von Aerzten geleiteten Anstalten völlige Abstinenz und körperliche Beschäftigung als unentbehrliche Mittel der Behandlung. In vereinzelten Asylen der ersten Gattung soll jedoch Braunbier gestattet sein. Demgegenüber muß nachdrücklich betont werden, daß mit einem auch noch so schwachen alkoholischen Getränk (Braunbier enthält 11/2 bis 2%, unser „Bayrisches“ 3 bis 5% Alkohol) kein Trinker zur Abstinenz erzogen werden kann. In den ärztlichen und nach ärztlichen Grundsätzen geleiteten Anstalten bildet daher die vollständige Abstinenz den wichtigsten Teil der Behandlung. Abstinenz ist nicht nur die Bedingung für die Kranken, sondern auch für die gesamte Umgebung. In die Anstalt darf kein Tropfen alkoholischer Getränke gelangen. Die Angestellten nebst ihren Familien müssen sich der vollständigen Abstinenz befleißigen: sie sollen den Kranken mit gutem Beispiel vorangehen und an ihrem eigenen Leibe zeigen, daß man ohne alkoholische Getränke sehr gut leben und bestehen kann.

Die Kranken, welche, da der Eintritt in die Anstalt ein freiwilliger ist, auch eine gewisse Freiheit der Bewegung genießen, müssen bei demselben einen Revers unterschreiben, in welchem sie sich wie zum strengen Innehalten der Hausordnung, so auch besonders dazu verpflichten, keine alkoholischen Getränke zu genießen und sich keine heimlich zu verschaffen.

Mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, also von 1900 an, wird es auch möglich sein, Trinker zwangsweise in Heilanstalten unterzubringen. Nach § 6, Absatz 3, ist nämlich die Entmündignng von Trinkern möglich. („Entmündigt kann werden, wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die Sicherheit anderer gefährdet.“) Als Entmündigter erhält er einen Vormund, welcher berechtigt und verpflichtet ist, geeignetenfalls auch gegen den Willen des Trinkers, für dessen Aufnahme und Festhaltung in einer Heilanstalt zu sorgen, um dadurch, wenn möglich, die Heilung des Trinkers herbeizuführen.

Um das Einhalten der Abstinenz zu erleichtern, ist die Lage der Trinkerasyle meist etwas isoliert, fern von Verkehr und den mit demselben verbundenen Gasthäusern gewählt. Dr. Smith in Schloß Marbach hat es durchzusetzen gewußt, daß den Wirtschaften der Nachbarorte von der Regierung verboten ist, den Insassen von Marbach alkoholische Getränke zu verabfolgen. Damit die Kranken leichter imstande sind, den Versuchungen zu widerstehen, dürfen sie (so lange es der Leiter für nötig befindet) weder Geld noch Geldeswert bei sich führen, in der ersten Zeit entweder gar nicht oder nur in Begleitung ausgehen, in keinem Gasthaus einkehren u. dgl. m., bis ihre Widerstandskraft so weit gefestigt scheint, daß die Zügel allmählich etwas gelockert werden können. Man läßt später den Kranken erst auf kürzere Dauer, dann auf längere Zeit ohne Begleitung ausgehen, erlaubt ihm, etwas Taschengeld bei sich zu führen, und beurlaubt ihn wohl auch gelegentlich auf einige Tage nach Hause, um ihn so langsam an den Gebrauch der Freiheit zu gewöhnen.

Neben der Abstinenz bildet geregelte körperliche Beschäftigung den wichtigsten Faktor für die körperliche und geistige Regeneration des Kranken. Besonders wertvoll sind in dieser

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 466. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0466.jpg&oldid=- (Version vom 7.6.2021)
  1. Sittliche Beeinflussung und eingehende Belehrung über den Alkohol und seine Wirkungen finden natürlich in allen Anstalten statt.