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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

er plötzlich mit lautem Gelächter ein und faßte sie so ungestüm bei der Hand, daß sie ordentlich erschrak. „Aber das ist ja eine unbezahlbare Geschichte, Gertrud!“ rief er. „Hätten Sie mir die doch früher erzählt, oder hätten Sie sich die Moral daraus gezogen – Sie sind doch sonst so gewandt darin! Aber freilich, heute war gerade der richtige Tag – der Brief da und Ihre Geschichte, die passen zusammen – es ist eine sichtbare Fügung!“

„Nun verstehe ich Sie aber gar nicht mehr!“ stammelte Gertrud.

„Natürlich!“ fuhr er fort. „Es geht Ihnen wie allen großen Entdeckern: Sie haben die Kur für Ihre Mutter gefunden und merken es nicht. Nun denn in zwei Worten: Sonntag abend reise ich fort und Dienstag zieht meine Tante Alma hier ein. Sorgen Sie nur mit, daß es Ihrer Mutter recht ist. Für das übrige bürge ich. Denn wenn Sie Ihre Schulmädchengrille mit dem Hange Ihrer Mutter vergleichen, so dürfen Sie mir dafür glauben: Ihre kluge Lehrerin von damals war in der Kunst, andern Leuten ein eingebildetes Uebel dadurch auszureden, daß man ihnen noch zehn größere dazu prophezeit, nur eine Stümperin gegenüber meiner Tante. Ihre Lehrerin betrieb die Kur ja nur halb. Meine Tante aber fügt zu dem negativen Reiz auch den positiven: sie beweist den Leuten auch, daß ihr allein nichts geschehen könne, weil sie allein ihre Schuhe richtig bindet. Damit weckt sie den Zweifel noch ganz anders.“

Gertrud lächelte noch sehr ungläubig; aber ein wenig hatte er sie doch mit seiner Zuversicht angesteckt, und es that ihr schon wohl, ihn wieder so fröhlich zu sehen. Sie ermahnte ihn selbst, sogleich an die Tante zu schreiben, und sie versprach auch – unter vielem Erröten – ihm während seiner Abreise regelmäßige „Berichte“ zu senden. Er bestand darauf, daß er ihr dann aber auch antworten müsse.

„Doch wohl nicht gar postlagernd?“ fragte sie mit einem Schrecken, in den sich schon ein gewisser Mutwillen mischte.

„Das Einfachste wäre es,“ meinte er; doch fanden sie es nach einigem Beraten besser, daß er die Briefe an seine eigene Adresse sendete und es so einrichtete, daß Gertrud sie immer morgens mit der ersten Ausgabe, während die Mutter noch ruhte, in Empfang nähme. „Ich werde sie Ihnen sorgfältig und ungeöffnet verwahren,“ scherzte sie.

Da er sie so heiter sah, schien er ihr noch etwas anderes, wichtigstes anvertrauen zu wollen; aber sie entzog ihm ihre Hand bei den ersten Worten. „Wir haben ein gutes Werk vor, nicht wahr? Lassen Sie uns es nicht vorzeitig verrufen!“ bat sie. Mit diesen Worten und dem Blick, der sie begleitete, mußte er sich einstweilen zufrieden geben.


5.

„Lieber Herr Hoven! Ihrem Wunsche gemäß schreibe ich Ihnen heute. Morgen werden es gerade acht Tage, daß Ihre Tante bei uns eingezogen ist. Es war eine ziemlich bewegte Zeit, aber ich fange fast an zu glauben, daß Sie mit Ihrer Meinung recht behalten –“

„So!“ sagte Gertrud und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer der Erlösung in den Schreibsessel zurück – in den Hartwig Hoven persönlich gehörenden Schreibsessel. Noch nie hatte ihr eine schriftliche Arbeit so viel Mühe gekostet wie diese beiden Sätze; nicht einmal der große Schlußaufsatz in der obersten Klasse der Mädchenschule: „Welche Empfindungen flößt uns der Anblick eines Gießbaches ein?“ war ihr so schwer geworden. Schon die Wahl der Anrede hatte zwei Briefbogen gekostet. „Geehrter Herr“ kam ihr zu gewöhnlich vor, „Lieber Herr Postsekretär“ fand sie „geradezu kindisch“, als es sie in ihrer eigenen Handschrift angrinste, und auch mit der dritten Fassung hatte sie sich nur aus Rücksicht auf die Unbeholfenheit der deutschen Sprache errötend abgefunden. „Die Engländerinnen haben es bequemer mit ihrem Dear Sir,“ dachte sie. Dann hatte sie sich eine endlose Zeit umsonst abgequält, um die richtigen Ausdrücke für einen genauen Bericht, wie er ihn wünschte, zu suchen, und schließlich war von der ganzen Arbeit nichts übrig geblieben als dieser dürftige Niederschlag.

„Nein,“ sagte sie, „es geht wirklich nicht; so etwas erlebt man, aber wie soll man es als Tochter einem andern schicklich schildern? – Abgesehen davon, daß es zu lang würde.“ Denn gleich am ersten Tage hatte es ja angefangen. Die Begrüßung war soweit ganz harmlos verlaufen. Frauen verstehen es so viel besser als Männer, sich beim ersten Zusammentreffen mit liebenswürdigen Formen über das drückende Bewußtsein, daß man sich noch gar nichts zu sagen hat, wegzuhelfen. Die hagere, ganz in Staubgrau gekleidete Dame hatte sich sogar sehr günstig eingeführt, indem sie die Wohnung ihres Neffen lobte und hinzufügte: „Er verdient es aber auch.“ Mit diesem Zusatz machte sie Gertrud glücklich, und mit dem Lobe der Einrichtung streute sie Frau Swarteborn den süßesten Wohlduft, den diese betrübte Seele noch zu empfinden vermochte. In allseitiger Befriedigung hatte man sich an den Kaffeetisch gesetzt, im Garten, gerade unter den Fenstern von Hartwigs Wohnzimmer. Frau Swarteborn hatte ihre ganze Backkunst aufgeboten, sie freute sich der anerkennenden Blicke des Gastes, unterließ aber nicht, mit vielem Seufzen hinzuzufügen, wie oft ihr gerade dies und jenes Backwerk noch im letzten Augenblick mißrate. Sie habe eben Unglück damit.

Die Dame sah sie aus den grauen scharfen Augen ruhig an und kostete. „Ja, meine liebe Frau Swarteborn,“ sagte sie, „das ist auch kein Wunder. Ich merke schon, Sie kennen das Rezept nicht. Mir passiert so etwas nicht. Wie machen Sie diese Kuchen denn?“ Und nachdem die Hausfrau, ganz verblüfft, ihr Rezept hergesagt, fügte der Gast hinzu: „Also so machen Sie das? Dann wundert mich, daß es Ihnen überhaupt noch so gut gelingt wie diesmal.“

Frau Swarteborn sah sie erschrocken an, sie sah auch ihre Tochter an, aber die meinte: „Ach, Mama, dann laß dir doch ’mal Fräulein Hovens Rezept geben.“

„Ja, das wird denn wohl so sein,“ versetzte Frau Swarteborn ganz schwach, nachdem Fräulein Hoven ihren Vortrag beendigt. „Wir können es ja ’mal probieren, Gertrud, aber du sollst sehen, es verunglückt uns.“

„Das kann anfangs jedem passieren,“ bemerkte Fräulein Hoven, „als ich noch nicht perfekt war, ist es mir auch schon passiert.“

Als man sich vom Kaffee erhob, hatte Frau Swarteborn bereits erfahren, daß die von ihr als einzigartiges Unglück beklagten speckigen Stellen auf dem neuen schwarzseidenen Kleide eine unausbleibliche Folge mangelhafter Stoffkenntnis beim Einkaufen seien, und sie wußte genau, durch welche Mittel Fräulein Hoven dafür sorgte, daß sie sich niemals über naschhafte Mägde zu beklagen habe.

An diesem Tage war Gertrud mit heißen Thränen zu Bett gegangen, das Herz voll bitterer Selbstvorwürfe darüber, daß sie die Hand zu einem Versuch geboten habe, der ihr kindliches Zartgefühl schwer verletzte und doch völlig aussichtslos schien; denn sie war überzeugt, daß diese Zwei keine drei Tage zusammenbleiben würden, und malte sich schon mit Schaudern aus, welch reiche Ernte kummervoller Betrachtungen ihre Mutter aus der Begegnung mit dieser rücksichtslosen Dame züchten werde, die ihren Hausfrieden gestört und sie obendrein noch mit Herrn Hoven entzweit habe. Denn das war ja klar, daß er sich dann auch von ihnen trennte – entweder hielt er es notgedrungen mit der Tante, oder Frau Swarteborn graulte ihn mit ihren Erinnerungen an deren Besuch davon.

Aber wider Erwarten bemerkte Gertrud in den nächsten Tagen, daß die Mutter die Gesellschaft von Fräulein Hoven keineswegs mied, ja sogar ihre Belehrungen geradezu herauslockte – vorerst allerdings nur, um ihren Selbstbetrachtungen ein neues Kapitel hinzuzufügen, da sie nun mit wortreicher Uebertreibung darüber jammerte, wie übel man sie in ihrer Jugend häuslich unterwiesen habe. Von einer Dame, die nie verheiratet gewesen sei und das halbe Jahr auf Reisen herumziehe, müsse sie jetzt in grauen Haaren erst die Anfangsgründe lernen! Gertrud schwieg und wartete in ängstlicher Spannung ab, wohin das nun führen werde. Das Dienstmädchen kündigte, da es sich zwischen Frau Swarteborns Klagen und Fräulein Hovens Zurechtweisungen wie im Fegefeuer vorkam. Die einzige, die es im Hause wirklich angenehm fand, war Fräulein Alma Hoven. Sie strich jeden Tag einige vornotierte Sehenswürdigkeiten in ihrem Reisebuch unbesucht aus und überredete die geduldige Wirtin, sie zum Besuch der anderen zu begleiten, nur um das Vergnügen ihrer Unterhaltung öfter zu genießen.

Dann aber änderte sich die Lage. Die arme Seele, die sich so lange selber gequält, fing an, sich gegen die fremde Quälerei aufzulehnen; es erging ihr wie einem Menschen, der einen wunden Finger hat und oftmals sacht darüber streicht, um sich mit einer gewissen Befriedigung zu überzeugen, wie weh es thut, aber sehr

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