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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

den Blick auf die schmalen Kanalstraßen frei, durch die sie wiegend und sacht entlangstrichen.

Manchmal zeigte sich ein drolliges Bild: auf einer Hausthürschwelle hockte eine Mutter und badete ihr Kind im schmutzig grünen Wasser. An den feuchten Mauern, dicht über der Kanaloberfläche, saßen mit sternförmig auseinandergespreizten, klammernden Beinen zahllose kleine hellgraue Taschenkrebse und Seespinnen.

Die ersten Minuten vergingen schweigend. Durch einen ihnen beiden unerklärlichen seelischen Vorgang war eine feindselige Stimmung zwischen ihnen. Eine Art von Trotz, in welchem jedes den andern dafür verantwortlich machte, daß man hier gefangen zusammensaß, um von der Stunde eine Entscheidung zu erzwingen, mochte die Stunde nun gerade dafür günstig sein oder nicht. Die kargste Freiheit – die, den Augenblick zu erfassen, die war ihnen immer verwehrt gewesen.

Es lag so etwas Niederdrückendes in der Situation. Seit heute morgen hatten sie es gewußt: nachmittags vier Uhr sollst du deine höchsten und besten Kräfte voll einsetzen können, um dein Ziel zu erreichen. Das ist ein verhängnisvolles Vorherwissen in Sachen der Leidenschaft.

Es machte zunächst beide gereizt und unsicher.

Sabine brach das Schweigen durch einige Bemerkungen über die Gegend, durch die man fuhr.

„Das hier ist ein anderes Venedig. Nicht das der Fremden. So still, so verschlafen. Ein Stück Vergangenheit.“

Schmale und bescheidene Häuser säumten die Kanäle ein. Wo eine knappe Uferstraße für Fußgänger einen Weg von Treppenbrücke zu Treppenbrücke gewährte, sah man wenige Menschen gehen; Frauen mit Umschlagtüchern, Männer in Hemd und leinenem Beinkleid. Auf dem weißen Gestein lagerten Kinder und träumten in den Tag hinein. Traurig sah der graue Himmel hernieder.

Sie kamen vor der Kirche an und hießen die Gondel warten.

Wie steinerne Schwermut umschrankte sie die gewaltige, kühl dämmerige Kirche. Mit erkünsteltem Interesse gingen sie an den Grabdenkmälern der Dogen vorbei. Die starre und stumme Pracht kalter Steine hatte ihnen heute nichts zu offenbaren, die graue Strenge sah sie fremd an.

Das war Tod. Das war Vergangenheit.

In ihnen aber waren alle quälenden Sensationen des Lebens.

Wie soll ich es ihr sagen, daß wir scheiden müssen für immer? dachte Achim. Und er litt selbst so peinvoll in der Vorstellung, daß es ihm versagt war, das Gnadengeschenk dieser glühenden Liebe anzunehmen.

Wird er die Zeit verrinnen lassen, ohne mir zu sagen, daß Liebe stärker ist als Welt und Vorurteil? dachte sie angstvoll.

Als sie wieder hinaustraten, froh, der Gesellschaft des Küsters ledig zu sein, der, unnütze Erklärungen murmelnd, immer einen halben Schritt voran, neben ihnen geblieben war, atmeten sie auf.

Die Luft schien ihnen wärmer und frischer und heller als vorher, obschon sie ganz unverändert geblieben war.

Achim half Sabinen in die Gondel. Dabei sahen sie sich an. – –

Und auf einmal war sie da, die Stimmung, die zur Entscheidung drängte, die ganze fieberheiße Erregung. –

Die Gondel glitt langsam weiter, den breiten, stillen Rio dei Mendicanti entlang, hinaus in die Lagune, jenseit der Stadt. Auf träumerisch wogender, glanzloser Flut, unter zinnfarbenem Himmel, in brütender Luft schwamm sie schaukelnd dahin; der Gondolier, hoch hinter dem schwarzen Dach stehend, holte unablässig zu gleichmäßigem Ruderschwung aus. Zuweilen klang sein melancholischer Warnruf. Langsam flog einmal eine Möwe mit lautlosem Flügelschlag dicht über dem Wasser hinstreichend vorbei.

„Sabine,“ sagte Achim und nahm mit seiner Rechten ihre Hand, „teure Sabine – ich danke Ihnen für diese Tage. Es sind unvergeßbare.“

Und er legte seinen linken Arm um ihre Taille. Wie ein Bruder, liebevoll und herzlich wollte er zu ihr sprechen. So hatte er es sich vorgenommen gehabt, für diese Stunde, schon seit Wochen.

Ihr Atem stockte. Sie sah zu ihm auf. Sie fühlte seinen Arm. So nah’ war sie ihm – so nah’. Ihre Augen brannten in den seinen.

„O Gott – – Achim,“ flüsterte sie. Ihr Haupt sank an seine Schulter.

Er wollte ganz gefaßt bleiben. Von der Natur meinte er das Unnatürliche erzwingen zu können; inmitten eines Flammenmeeres dachte er kühl zu atmen. Er vergaß, daß er auch nur ein Mensch war.

„Sabine,“ sprach er kaum hörbar, „Sabine – mein Herz ist voll Dankbarkeit für alles, was Sie – – was – –“

Und sie schwieg immerfort. Sie suchte keine Worte und sie brauchte keine. Ihre Augen sprachen von hingebendem Verlangen, von seligster Glückserwartung.

Und ihre Lippen schienen sich ein wenig zu öffnen.

Da neigte er sein Angesicht und sein Mund preßte sich auf den ihren.

Er vergaß alles.

Er wußte nur, daß es wert war, zu leben um dieses Augenblickes willen.

Wie zwei, die sich aus höchster Gefahr und Not endlich zu einander gerettet haben, hielten sie sich umklammert, trunken vor Leidenschaft, sinnlos vor Glück.

„Mein!“ stammelte Sabine. „Mein – endlich doch.“

Zwischen immer neuen Küssen stammelte sie es. Und er ließ sie nicht aus seinen Armen, als fürchtete er das Erwachen – oder als könnte er nicht an so viel Seligkeit glauben, ohne sie zu halten.

Dann kam ein jubelnder Stolz über Sabine, eine Art von Machtrausch, von königlicher Trunkenheit.

Die Arme um seinen Hals, ihr Angesicht nah’ und gerade vor dem seinen, sprach sie zu ihm: „Was ich um dich gelitten habe, wie ich mich nach dir zersehnte – ich kann es dir niemals, niemals ganz sagen! Menschenworte beschreiben es nicht. Ich fühlte wohl, daß du mir zu entfliehen trachtetest! Warum? O mein Gott, Achim! Ist die Leidenschaft nicht gewaltiger als Herkommen und Vorurteil und selbst als der Tod?! Laß die Bedenken und die kleinen bangen Gedanken für die, welche armen Herzens sind. Laß die feige sich vor Erwägungen fürchten, denen das Blut dünn und still in den Adern schleicht! Wir aber, wir sind wie Herren und Fürsten – weil wir die Leidenschaft haben, haben wir auch die Kraft. Wir werden das Ungewöhnliche zum Selbstverständlichen machen. Die Liebe giebt uns das Recht dazu. Deine Seele hat schwer an dem Bewußtsein getragen, ein Menschenleben vernichtet zu haben. Daß du Kindern einen Vater nahmst, das drückte dich. Es war das erste Geständnis, das du mir machtest, damals, als uns der Zufall an seinem Grabe zusammenführte. Weißt du noch? Aber es war kein Zufall. Das Schicksal hatte uns mit Vorbedacht dorthin geführt. Den Kindern, denen du schuldlos den Vater nahmst, denen wirst du alles ersetzen, was ihnen verloren ging – du wirst es ihnen besser ersetzen. Ist das nicht Ausgleich und Entsühnung? So groß, so tief, so wunderbar?! Kannst du dir eine weisere denken? Und ich? Und ich? Weißt du, Achim, ich habe gelitten – o, laß mich nicht mehr daran denken, wie alles in mir getreten ward – alle Illusionen, alle Jugendfröhlichkeit, aller Stolz. Ich lebe wieder, seit ich dich sah! Ich bin erst Ich selbst geworden durch dich. Und ich preise mein vergangenes Unglück. In ihm lernte ich mit allen Sinnen, mit allen Nerven, mit jedem Schlag meines Herzens, was es sein müsse: das Glück, das Glück! Ich weiß was Liebe ist – jetzt weiß ich es. Und ich liebe dich – rasend – zum sterben – –“

Und wieder warf sie sich an seine Brust. Er aber, erschüttert von der Gewalt ihrer Leidenschaft, schloß sie fest an sein Herz.

Das Schicksal ist stärker gewesen als ich, dachte er, vielleicht hat es recht gehabt.

Ihre flammenden Worte brausten über seine schweren Gedanken hin. Ihm schien es in dieser Stunde nicht mehr unmöglich, Vergangenes zu vergessen, ganz zu überwinden. Er fühlte, daß er geliebt wurde, über menschliches Maß hinaus. Und von wem? Von dem herrlichsten Weibe. Und er sollte dieses große Herz zurückstoßen? Dieses glühende Leben zerknicken? Sich selbst der heißesten Wonne berauben?

Das konnte kein Gott und kein Mensch von ihm fordern.

Mutig als ein Mann mußte er nun mit eherner Stirn die Thatsache vertreten und tragen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 426. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0426.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)