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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Unsicherheit der Straßen angebotene Begleitung nach Hause niemals ab und nahm jedes galante Gespräch an, mit einer gewissen Schüchternheit, die aber schlecht eingeübt war und deshalb nie recht klappte; es kam vor, daß sie manchmal eine gewagte Schmeichelei selbstgefällig und freundlich anhörte, aber gleich darauf das unverfänglichste Wort mit einem „Aber nein, mein Herr, ich muß doch bitten –“ entrüstet abwies. Wie alle von Haus aus harmlosen und kindgebliebenen Menschen besaß sie einen starken Hang zu Süßigkeiten und Näschereien, sie konnte ganze Teller von Frau Swarteborns berühmtem Eingemachten auslöffeln, während sie mit großer Geduld die Klagen der gastfreien Dulderin anhörte und nur zuweilen mit einem mitleidig gläubigen „Kolossal!“ unterbrach. Dies war ihr Lieblingswort; es stand in einem wunderlichen Gegensatz zu ihrer Erscheinung, denn sie war, was man in manchen Gegenden ein Pusselchen nennt, eine kleine Blondine mit roten Pausbacken, runden Aermchen und kurzen dicken Fingerchen; dazu kleidete sie sich mit Vorliebe in majestätische Farben, tiefrot oder purpurn, wodurch das Wulstige ihrer Gestalt noch mehr hervortrat. Uebrigens war sie die einzige Tochter eines alten Freundes von Gertruds Vater, eines höheren Postbeamten, und hieß mit Vornamen Therese, nannte sich aber Thea, weil sie das romantischer fand; „und für das Romantische bin ich kolossal,“ pflegte sie zu versichern.

Zu der ruhigen, überlegenden Art Gertruds paßte Thea keineswegs, auch war ihr Verkehr eben nur eine Fortsetzung der Schulkameradschaft, des gemeinsamen Schulwegs, zusammen verfertigter Aufsätze und wechselnder Kinderbesuche von Haus zu Haus. Dergleichen wächst sich leicht zu einem Umgange aus, der unter dem Namen und gewissen zärtlichen Formen der Freundschaft das Ende der Schul- und Pensionatszeit jahrelang überdauert, zumal wenn die eine der beiden „Freundinnen“ leiblich und geistig der andern weit genug nachsteht, um in keinem Punkte ihre Eifersucht zu wecken. Wenn Gertruds Vorstellungen von einer wahren Freundschaft über diese Art Umgang hinausgingen, so sagte sie Thea jedenfalls nichts davon; sie nahm die Besuche Theas freundlich auf, erwiderte sie, wenn auch seltener, hörte ihre „romantischen“ Schwärmereien und Einfälle an, widersprach ihnen und grämte sich nicht viel, wenn Thea sich nicht an den Widerspruch kehrte. Neuerdings hatte sie sich aber durch Theas Bitten zu einer Hilfeleistung verleiten lassen, die ihr arge Gewissensbisse machte.

Das romantische Fräulein hatte ihr eines Tages gebeichtet, daß es mit einem Herrn in schöngeistigem Briefwechsel stehe, und zwar, was die Sache noch romantischer machte, ohne daß die beiden briefwechselnden Schöngeister einander auch nur mit dem Namen kannten. Der Unbekannte hatte sich durch eine Zeitungsanzeige unter wehmütigem Hinweis auf seine Sehnsucht nach poetischem Gedankenaustausch mit einem edlen weiblichen Wesen und auf seinen Mangel an Damenbekanntschaft bereit erklärt, mit einem idealstrebenden Fräulein in Briefwechsel zu treten. Thea Siebold hatte darauf nach der in dem Gesuch angegebenen Handelsstadt unter der gleichfalls angegebenen Aufschrift „Marquis Posa 713 postlagernd“ einen ersten Brief gesandt, den sie mit „Psyche 111 postlagernd“ unterzeichnete. Der durchaus romantische Stil der „postlagernden Psyche“ schien dem neuen Marquis Posa zu gefallen, er erwiderte darauf mit einem Briefe, in dem eine Menge poetischer Lesefrüchte auf einer ganz für Theas Geschmack geschaffenen Brühe von weltschmerzlichem Selbstlob und billigen Schmeicheleien schwamm, und so hatte sich der zierliche Gedankenaustausch drei- oder viermal wiederholt. Nun aber war für Thea ein sehr betrübender Zwischenfall eingetreten: die Putzfrau, von der sie bisher – aus Angst vor der postalischen Wachsamkeit ihres Vaters – die Briefaufschriften besorgen und die postlagernden Ansichten des „Marquis Posa“ abholen ließ, war aus dem Ort verzogen, und dies gerade zu einer Zeit, wo Thea einen unvergleichlichen Brief fertig hatte und einen ähnlichen Herzenserguß ihres „Marquis“ erwartete. In dieser Not wandte sie sich an Gertrud, um dieser die Geschichte zu beichten und sie zu bitten, daß sie einstweilen die Rolle der Putzfrau übernehme.

Gertrud erschrak doch, als sie von dieser neuesten romantischen Dummheit ihrer Freundin hörte; sie sagte ihr sehr deutlich ihre Ansicht und weigerte sich entschieden. Thea war sehr zerknirscht, bat immer kläglicher und versicherte zuletzt, im Vertrauen auf Gertruds Unkenntnis der Postbestimmungen, der nicht sogleich abgeholte Brief des „Marquis“ werde ihrem Vater zum Durchlesen gegeben werden, der an gewissen Anspielungen die Adressatin erkennen müsse. Sie habe ohnedies jetzt so viel von ihrem Vater zu leiden, da er sie durchaus mit einem seiner jungen Beamten verlobt sehen wolle. Auf die Erörterung dieser neuen Herzensangelegenheit ließ sich Gertrud nicht ein, in der Hauptsache gab sie schließlich nach, nachdem ihr Thea versprochen hatte, in einer Nachschrift den Briefwechsel aufzukündigen und Zurücksendung der Briefe zu fordern.

Für Thea war die Angelegenheit damit nach Wunsch erledigt, sie umarmte Gertrud stürmisch, trocknete ihre Thränen und machte sich alsbald auf, um noch eine andere Freundin zu besuchen, in deren Hause ein sehr interessanter Vetter, ein Maler aus München, auf der Durchreise eingekehrt sei. Gertrud aber wandelte die nächsten Tage mit dem lähmenden Unbehagen umher, welches das Bewußtsein einer unerledigten lästigen Verpflichtung auferlegt.

Als sie zum erstenmal – gegen Abend – an den Schalter trat, über dem die Inschrift „Postlagernd“ prangte, erschrak sie über die Menge von Nachfragenden; es war ihr, als ob sie plötzlich auf einer Anklagebank neben allerlei anderen Verbrechern säße; als dann die Reihe an sie kam und der alte Beamte hinter dem Schalter sie wirklich mit einer Art Untersuchungsrichterblick fragend anstarrte, brachte sie ihr „Psyche 111“ so undeutlich hervor, daß der Alte nur mit einem ungeduldigen „Wie?“ antwortete. Sie errötete sehr, als sie das alberne Merkwort lauter wiederholte und dabei die Augen eines jüngeren schwarzbärtigen Herrn, der im Innern des Zimmers arbeitete, neugierig auf sich gerichtet sah. Zu allem Unglück war auch gar nichts für Psyche da.

Gertrud hätte am liebsten das Postgebäude niemals wieder betreten. Aber Thea drängte und bat, und so wagte sie sich am Geburtstag der Mutter nochmals hin, diesmal vormittags, da Thea sie belehrt hatte, daß es um diese Zeit vor den Schaltern nicht so voll sei. Sie war auch wirklich die einzige in dem langgestreckten Warteraum; dafür folgten ihr jetzt hinter allen Schaltern her neugierige Blicke der Beamten, und unter der Aufschrift „Postlagernd“ saß diesmal jener junge dunkelbärtige Sekretär, der sie das vorige Mal so prüfend betrachtet hatte. Er war weniger schwerhörig als der Alte und erwiderte sehr höflich: „Bedauere sehr, mein Fräulein!“ Dabei aber sah er ihr wieder mit einem so seltsamen Ausdruck, zugleich bewundernd und verwundert, in das errötende Gesicht – sie hätte nun doch viel lieber den alten Mürrischen mit seinem geschäftsmäßig kurzen „Nichts da!“ vor sich gehabt. Sogleich nahm sie sich vor, am Nachmittag Thea aufzusuchen und ihr den lästigen Freundschaftsdienst zu kündigen. Als sie aber zur üblichen Theebesuchszeit diesen Vorsatz ausführte, hörte sie, daß Thea auf ein paar Wochen aufs Land verreist sei, zu einem weizenbauenden Onkel, und sie mußte sich begnügen, ihr ihre Meinung in einem Briefchen zurückzulassen.

Bei der Heimkehr sah sie vor der Hausthür eine große Handkarre halten, mit mehreren Koffern und Kisten beladen, während zwei Dienstmänner eben eine schwere Bücherkiste die Vortreppe hinaufschleppten. Bei ihrem Eintritt vernahm sie von diesen, das gehöre alles dem neuen Mieter für die beiden Zimmer im ersten Stock nach dem Garten zu. Es scheine ein sehr feiner Herr zu sein; die Sachen hätten noch auf dem Bahnhof gestanden, er sei erst seit ein paar Wochen in der Stadt und habe bis jetzt im Gasthof gewohnt.

Während Fräulein Gertrud sich noch berichten ließ, kam Frau Swarteborn mit dem neuen Meter aus den Zimmern; sie schien ziemlich gut bei Mute, wie immer wenn es etwas Tüchtiges und Eiliges im Hause zu thun gab, und lächelte sogar ein wenig, als sie ihre Tochter mit dem neuen Hausgenossen bekannt machte. Gertrud aber verging das Lächeln; denn der Herr Postsekretär Hartwig Hoven, den ihr die Mutter da vorstellte, war derselbe Beamte, der sie am Vormittag so freundlich bedient hatte; und obgleich sie – vermutlich wegen des durch die geöffneten Thüren grell einfallenden Abendlichtes – die Augen wegwandte, meinte sie doch deutlich auf ihren heißen Wangen wieder den verwundert forschenden Blick zu fühlen, während Herr Hartwig Hoven sich mit einigen scherzhaften Worten äußerst höflich und ruhig wegen seines plötzlichen Einbrechens entschuldigte.


2.

Eine freundlich gelegene, schön ausgestattete Wohnung mit aufmerksamer Bedienung hatte Frau Swarteborn auf ihrem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0415.jpg&oldid=- (Version vom 7.3.2021)