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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Zeit, denen andere lebende Wesen in kürzester Frist erliegen. Während wirkliche lebende Tiere regelmäßig zu Grunde gehen, wenn ihre Innentemperatur in die Nähe von 50° Celsius Wärme kommt, können manche Bakteriensporen sogar einige Zeit gekocht werden, ohne daß sie absterben. Sie können auch in einen luftleeren Raum gebracht werden und dort lange Zeit belassen werden. Wenn sie nachher wieder in günstigere Lebensbedingungen kommen, Wasser, Luft, Nahrung und geeignete Temperatur erhalten, so entwickelt sich alsbald wieder die mit eigner Beweglichkeit versehene Form, die man unter dem Mikroskop lustig herumschwimmen sehen kann.

Die Fähigkeit, aus dem Scheintod der Dauersporen zum aktuellen Leben zurückzukehren, behalten manche Bakterien jähre- und jahrzehntelang, ja vielleicht noch viel länger.

Noch bekannter als von den Bakterien ist es von den höheren Pflanzen, daß sie einen Zeitpunkt in ihrer Entwicklung aufweisen, während dessen sie scheintot sind, d. h. scheinbar ganz unverändert bleiben und jeder Lebensäußerung entbehren, nämlich als Samen. Viele Samen kann man mehrere Jahre lang trocken aufheben, ohne daß sie die Fähigkeit verlieren, bei Einwirkung von Feuchtigkeit zu keimen. Gewisse Samen, die man in römischen Gräbern gefunden hat, und die dort über tausend Jahre gelegen haben müssen, sollen noch keimfähig gewesen sein. Man hat das auch von Getreidekörnern behauptet, die in ägyptischen Mumien gefunden wurden und demnach mehrere tausend Jahre alt waren. Es scheint aber, daß das ein Irrtum und dieser sogenannte Mumienweizen gefälscht war. Bei neueren Versuchen mit echtem Mumienweizen hat man immer gefunden, daß die Körner, die braun aussahen und mumienartig rochen, bei der Befeuchtung mit Wasser lehmartig zergingen. Niemals kamen sie zum Keimen.

Photographie im Verlage von Franz Hanfstaengl in München.
Erfreuliche Nachricht.
Nach dem Gemälde von Th. Grust.

Interessant sind auch die Beobachtungen von de Candolle, nach denen auf Alpenbergen an Stellen, wo jetzt ewiger Schnee liegt, im Erdreich unter dem Schnee keimfähige Samen gefunden wurden, die dort wahrscheinlich jahrhundertelang geruht haben. Ferner hat man in trockenem Waldboden Samen von Pflanzen gefunden, die dort gar nicht wachsen konnten, weil sie beispielsweise Sumpf- oder Wiesenboden brauchen. Man nimmt nun an, daß sie von einer früheren Vegetationsperiode herrühren, d. h. von einer längstvergangenen Zeit, wo an der Stelle des jetzigen Waldes Sumpf- oder Wiesenland war. Und diese ganze Zeit hindurch sind die Samen keimfähig geblieben.




Es bleibt uns jetzt noch übrig, festzustellen, inwieweit sich der wahre Scheintod, den wir bei Tieren und bei Pflanzenkeimen beobachten, vom Tode unterscheidet, d. h. was von den allgemeinen Lebenserscheinungen in diesem Zustand noch nachweisbar ist.

Zunächst können wir konstatieren, daß eine Lebenseigenschaft sicher erhalten geblieben ist, die Reizbarkeit. Denn wenn ein solcher Samen zu keimen beginnt, oder wenn ein Bärentierchen wieder auflebt, dann thun sie das ja nicht aus einer inneren Ursache, „spontan“, aus eigenem Antriebe, sondern stets nur auf einen äußeren Reiz hin. Die geeignete Keimtemperatur muß einwirken, Feuchtigkeit und Luft müssen vorhanden sein. Alles das sind Reize für das Tier oder den Samen. Besäßen die scheintoten Individuen nicht Reizbarkeit, so könnten sie nie mehr zum Leben erwachen.

Wir dürfen also sagen: Wo keine Reizbarkeit ist, ist kein Leben.

Nun fragt es sich noch, ob auch das zweite Hauptmerkmal, das wir bei allem und jedem Leben finden, der Stoffwechsel, auch im wahren Scheintod ununterbrochen fortbestehen muß, oder ob er unterbrochen sein kann.

Neuerdings scheint sich die Entscheidung dieser Frage mehr und mehr dahin zu neigen, daß in gewissen Fällen der Stoffwechsel, speciell die Atmung auf lange Zeit ganz aufgehoben sein kann, daß also bei Tieren und Pflanzen das vorkommt, was wir für den scheintoten Menschen unbedingt bestreiten mußten.

Die Bakterienkeime und die Bären- und Rädertierchen sind natürlich zu klein, als daß man an ihnen feststellen könnte, ob sie im scheintoten Zustande atmen, das heißt, ob sie Sauerstoff aufnehmen und Kohlensäure produzieren.

Dagegen hat man an Pflanzensamen und Tiereiern Untersuchungen über diesen Punkt anstellen können. Bohnen, Erbsen, oder Maiskörner hat man in ein Gefäß gebracht, aus dem alle Luft nach Möglichkeit ausgepumpt war, oder man hat sie in Gefäße gethan, in denen sie ganz von Quecksilber umschlossen waren.

In beiden Fällen fehlte also den Samen die Luft zur Atmung. Bei den Samen im luftleeren Raum hat man auch durch besonders feine Methoden nachweisen können, daß sie keine Kohlensäure ausgeatmet haben. Trotzdem sind sie nicht erstickt, denn als man sie an die Luft brachte und befeuchtete, keimten sie zum allergrößten Teile. Sie waren also wahr und wirklich scheintot im streng wissenschaftlichen Sinne.

Auch Schmetterlingseier hat man so behandelt. Auch sie halten den Aufenthalt im luftleeren Raum ziemlich lange aus. Bringt man sie nachher an die Luft, so schlupfen die kleinen Räupchen aus.

Ich möchte jetzt schließlich noch einen Umstand erwähnen, der für die Lehre vom Scheintod sehr wichtig ist, und den wir gelegentlich schon berührt haben, nämlich den Einfluß der Kälte.

Für alle Lebensprozesse giebt es eine bestimmte Temperatur, bei welcher der Prozeß am besten und energischsten vor sich geht; bei niedrigerer Temperatur läßt die Energie der Lebensvorgänge dann nach, und es giebt eine Temperaturgrenze, bei welcher die Thätigkeit der lebendigen Substanz überhaupt stockt.

Bei diesem Kältegrad braucht nun aber das Leben nicht für immer zu erlöschen, es braucht nicht Tod einzutreten, sondern es kann Scheintod eintreten.

Eine Annäherung an Scheintod finden wir ja schon bei dem mehrfach erwähnten Winterschlaf mancher Tiere, der (beim Murmeltier) übrigens nicht bei großer Kälte, bei Frost, eintritt,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0413.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2021)