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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

erwartungsvollen Augenpaare, die den Nebel dort unten zerreißen möchten, sich am Ende enttäuscht abwendeten? Das würde mir doch weh thun, gerade so weh wie dem Sohne, dem die Mutter, nachdem er ihr die Braut präsentiert hat, heimlich und mitleidig gesteht: „Na ja, mein Junge, sie ist ja ganz niedlich, aber nach deiner Beschreibung mußte ich annehmen, eine siegreiche Schönheit als Schwiegertochter umarmen zu können; da sieht man wieder, die Liebe ist blind –.“

Das Portal der Schloßkirche.

Ein bißchen kleinlaut fahren wir dahin. Das Schloß, die Schloßkirche heben sich jetzt deutlicher aus dem Nebel. Wie schön, wie stattlich! denke ich, und das Herz geht mir auf in Erinnerung an die ersten Kirchenbesuche des kleinen Mädchens, dem nie wieder im spätern Leben so feierlich bei einem Gottesdienst zu Sinne war wie da droben im Quedlinburger Dom unter den Klängen der alten Orgel, die der Kantor R. spielte, bei den Worten des schlichten, milden alten Pastors B. – Der Wagen fährt über die Stumpfsburger Brücke. „Bitte, durch das Wasserthor,“ rufe ich dem Rosselenker zu, „und dann durch die Lange Gasse nach dem Schloßplatz!“

Am Wasserthor.

Und wie wir uns dem Wasserthor nähern, da trifft ein doppelter Jubellaut mein Ohr, meine Gefährtinnen sind plötzlich im Wagen aufgesprungen, wie elektrisiert. „Annie, sieh doch! Nein, ist das schön!“ – „Nein, Dora, diese Häuserchen, diese Dächer, diese Farben – diese Farben!“

Jenseit der Bode thront hoch auf steilem Felsen das Schloß, und an dem Abhange des Berges ziehen sich die Straßen des Westendorfs hin, kleine enge Gassen, von lauter winzigen, ärmlichen Häuserchen gebildet; ein Dächergewirr, kraus und mannigfaltig, in allen Nuancen von Rot, vom beschmutzten verwitterten bis zum leuchtenden Braunrot der neuen Ziegel, mit denen man die alten Dächer ausgebessert hat. Und die Häuser selbst, wie die Farben eines Tuschkastens – grün, lila, gelb, himmelblau sind sie angestrichen, wie neu, wie eben fertig geworden zum lieben Pfingstfest; dazwischen die Gärtchen mit üppigem Grün. Und das blüht und prunkt in der strahlenden Sonne zu Füßen des ernsten ragenden Kaiserschlosses, als habe man einem altersgrauen stolzen Recken einen lustigen bunten Teppich zu Füßen gebreitet.

Die Bußkapelle in der Schloßkirche.

Wir fahren durch enge winklige Straßen, die ich gut, ach so gut, kenne, denn meine Kinderfüße sind über ihr Pflaster gelaufen; die frohen Spiele sommerabends mit den Nachbarkindern fallen mir ein, die Gänge zur Schule –. Ueber die Mauern wehen die Zweige der alten Obstbäume, an denen die Winteräpfel längst vergangener Tage reiften. Dort wohnt der Bäcker, der die Weihnachtsstollen buk, große flache Kuchen, dick mit Mandeln und Zucker bestreut, die so wundergut schmeckten. Und nun ein kleiner von alten Häusern umgebener Platz – „Finkenherd“ ist an dem ersten Hause zu lesen. Dort ist es, wo der Sage nach zu Anfang des zehnten Jahrhunderts Herzog Eberhardt, des Königs Konrad I Bruder, auf dessen Wunsch, dem Sachsenherzog Heinrich die deutsche Kaiserkrone überbrachte, die dieser mit so hohen Ehren trug bis zu seinem im Jahre 936 in Memleben an der Unstrut erfolgten Tod.

Damals mag auf diesem Fleck wohl Buchen- und Eichenwald gerauscht haben, denn der ritterliche Herr lag, wie bemeldet, just dem Vogelfange ob, als ihn die Gesandten trafen. Und an der Bode, die jetzt zwischen bebauten Ufern dahinfließt, standen damals die Hütten des kleinen Dörfchens Quittlingen. Der neue junge Kaiser mag begreiflicherweise für den Ort, an dem ihm so hohe Ehre widerfuhr, eine große Zuneigung gefaßt haben, so daß er beschloß, auf dem Felskegel, der sich unweit des Finkenherdes erhebt, eine feste Burg zu gründen, was er denn auch bald ausführte. So entstand die Feste Quidelingeburg.

Die Fürstengruft in der Schloßkirche.

Wir halten jetzt auf einem etwas bergansteigenden freien Platz unter alten Linden und Kastanien, die den Aufstieg zum Schloß und Dom beschatten. Dort unten das Haus mit dem säulengetragenen Vorbau ist die Geburtsstätte Klopstocks. Wir haben den Wagen verlassen und wandern unter den Bäumen unserem Ziele entgegen. Recht steil geht es empor, und das Pflaster ist nicht g’rad’ berühmt. Aber ich erinnere mich aus meiner Kinderzeit der Weihnachtsmorgen, an denen der Schnee die holprigen Steine mit einem flaumigen Teppich belegt und jede Kontur des stolzen Baues, jedes Aestchen der Linden mit leuchtendem Weiß nachgezeichnet hatte; Christmorgen, an denen alte fromme Weiblein im langen faltigen Tuchmantel und mit pelzverbrämter Kapuze inmitten erwartungsvoller

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0401.jpg&oldid=- (Version vom 21.1.2021)