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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

edles Haupt auf dem schlanken Hals saß! Wie köstlich waren die Linien ihrer Schultern und Arme!

Er seufzte schwer und resigniert, als er dann das Bild in seinem Koffer verbarg. Aber allabendlich holte er es hervor und starrte es an, und eine dumpfe, zehrende Unruhe wuchs langsam in ihm.

Seine Nächte wurden von leidenschaftlichen Träumen gequält. Tags freute er sich nun fast all der fatalen Lebensbedingungen, die wenigstens ihm gewaltsam Vergessen aufzwangen.

Eines Nachts, als sie in einem polnischen, jämmerlichen kleinen Städtchen im Quartier lagen, brachen derartige Unwetter nieder, daß der nächste Morgen ihnen eingestürzte Brücken, zerstörte Straßen, überschwemmte Felder zeigte, und anstatt, wie geplant gewesen, um vier Uhr früh weiterzumarschieren, hieß es für das Regiment, dem Pionierdetachement bei Straßen- und Notbrückenbau behilflich sein. Das Städtchen lag auf einer Insel, von zwei Armen der Warthe umflossen. Die nördliche Brücke war eingestürzt, der Damm der hier mündenden Zweigbahn unterwühlt; die Chaussee, zu welcher man über die südliche Brücke gelangte, viele Meter lang gleichsam eingesunken und von Steingeröll und Wasserlachen bedeckt.

Hier hielt Achim und überwachte von seinem Pferde aus die Arbeiten seiner Füseliere. Zwischen den Leuten bewegte sich Bläser und ein Leutnant von den Pionieren. Man ließ Bretter heranführen und Erde, um einen Uebergang herzustellen.

Hinter ihnen rollte gelb und schwerflutend der Strom an dem rotgrauen Häusergehock des Städtchens vorbei. Da ragten ein paar Fabrikschornsteine und ein Kirchturm in die trübe Luft. Vor ihnen zog sich die mit Bäumen eingefaßte Chaussee endlos in die flache Gegend hinein. Die nassen Wipfel sperrten ihr Gezweig krankhaft auseinander, denn es war schwer von Regen und von Obst.

An der Stelle, wo die Einsenkung begann, sammelten sich nach und nach allerlei Gefährte und Fußwanderer. Den Fußgängern halfen einzeln die Soldaten hinüber, und Achim sah da mehr als ein Genrebildchen, wenn einer seiner frischen, kernigen Kerle mit gutmütigem Spott einen zitternden Handelsjuden mit Kaftan und Schläfenlocken mehr zog als führte, während die schmale Bohle unter ihren Tritten schwankte.

Für die Wagen hieß es: warten. Da fuhr zuletzt eine förmliche Wagenburg zusammen, sechs vierspännige, gleichaussehende, schwer mit Säcken beladene Fuhrwerke, die Kutscher alle mit gleicher Mütze. Sie sollten Getreide von einem nahen Herrschaftssitz an die Bahn bringen. Dann ein vergittertes Wägelchen, aus dem jämmerliches Geblök erscholl, Kälberköpfe suchten sich durch die Lücken des Gitters zu drängen und der Kutscher schimpfte laut. In zwei leeren Ackerwagen legten sich die Führer gleichgültig zum Schlafen hin und die Gäule standen in Stumpfsinn unbeweglich. Dazwischen stand, schon ganz eingekeilt, eine offene Viktoriachaise. Ein Kutscher in Livree saß auf dem Bock, ein alter Herr und eine junge Dame im Wagen. – Die Kommandostimmen der Offiziere überschrieen den Lärm, Bretter krachten polternd zur Erde, Hammerschläge hallten, die Kälber blökten jammervoll, rechts und links blinkte schlammiges Wasser auf dem Gebreite der Felder, und vom zinnfarbenen Himmel begann es eben zu tröpfeln.

Achim sah, daß die beiden Personen in der offenen Halbchaise sich erhoben und augenscheinlich mit Gebärden der Entmutigung die ganze Scenerie rings sich anschauten. Nun bemerkte er erst, daß es eine Dame war und ein alter Herr, also zwei Menschen, die des Schutzes oder wenigstens vielleicht eines Rates bedurften.

Er stieg ab und gab sein Pferd dem nächsten Mann zum Halten.

„Kommen Sie, Bläser,“ sagte er im Vorübergehen, „wir wollen den Herrschaften helfen.“

Vorsichtig balancierend, gelangten sie über das schmale Brett nach der anderen Seite und wanden sich zwischen den Wagenrädern, Pferdekruppen durch bis zur Chaise hin.

Achim grüßte.

„Wenn ich mir erlauben darf, den Herrschaften zu raten, so wäre es besser, Sie stiegen aus und gingen zu Fuß ins Städtchen. Es ist nur eine Viertelstunde. Bis der Wagen hinüber kann, wird noch eine Stunde und mehr vergehen.“

Der alte Herr lüftete höflich seine Lammfellmütze und sah das junge Mädchen fragend an.

„Wie du meinst, Onkel,“ sagte sie.

„Den Zug haben wir schon versäumt,“ bemerkte er verstimmt.

„Wenn die Herrschaften mit der Bahn weiter wollten – der Bahndamm ist unterspült. Vor morgen wird kein Zug abgelassen,“ berichtete Achim.

„Ach du meine Güte!“ rief der alte Herr.

„Aber Onkel, wie romantisch! Denke doch! Dies ist das erste Abenteuer meines Lebens,“ rief das junge Mädchen vergnügt.

Der alte Herr lächelte, auch die beiden Offiziere erlaubten sich ein wohlwollendes kleines Lächeln.

„Gnädiges Fräulein werden vielleicht mehr Unbequemlichkeit als gerade Romantik finden. Im Gasthof ‚Zum König Stanislaus‘ haben die Stäbe die besten Zimmer mit Beschlag belegt. Aber Platz finden die Herrschaften sicher. Auch das Essen ist nicht schlecht. Nur ist es ein großes militärisches Treiben da,“ erzählte Achim.

„Also steigen wir aus,“ entschied der Alte, „wenn die Herren uns hinüberhelfen wollen … und Sie, Prenka, kommen nachher in das Hotel mit den Sachen.“

„Zu Befehl, gnädiger Herr!“

Mit einem bezeichnenden Blick gebot Achim seinem Kameraden, den alten Herrn zu führen. Es war selbstverständlich, daß ihm, dem Premier, der angenehmere Teil der Aufgabe, nämlich die Führung der jungen Dame, zufiel. Und obenein gefiel ihm dieselbe ganz ausnehmend.

Sie war mittelgroß und schlank, ganz in einen englischen grauen Reiseüberrock gehüllt, welcher in der Taille fest anschloß und die hübsche Gestalt ganz erkennen ließ. Dazu trug sie einen weißen Strohhut von Matrosenform. Dick quoll unter seinem Rande ein blonder Haarknoten hervor. Das Mädchen hatte blaue Augen, die mit einem freudigen Blick in die trübselige Welt schauten. Man sah es ihrem offenen, frischen Gesicht an, daß all diese unerwarteten Unbequemlichkeiten ihr die Laune gar nicht verdarben. Vertrauensvoll und ohne Ziererei sah sie zu Achim empor.

Den alten Herrn hielt Achim für einen Russen, trotz seines reinen Deutsch. Er war sehr groß und schlank, trug sich etwas vornübergeneigt und hatte auf seinem weißen Haar eine Lammfellmütze. Sein Gang war müde, sein Gesicht bleich, die Nase lang und fleischig. Er hatte etwas Verbrauchtes, Blasiertes, Zerstreutes, das aber nicht unliebenswürdig wirkte, sondern eher Teilnahme erregte.

Achim ließ das junge Mädchen vor sich her gehen und hielt sie, hinter ihr schreitend, an beiden Oberarmen. Das Brett bog sich unter ihnen. Zuweilen überlief das Schlammwasser und netzte ihre Füße.

„Hineinfallen möchte ich nun gerade nicht in den Schmutz,“ sagte sie lachend.

Achim sah dicht vor sich den blütenweißen Leinenkragen aus dem Mantel gucken und sah den Hals, das Ohr und ein Stückchen Wangenprofil sowie den dicken Haarknoten. Ein Glanz von Appetitlichkeit ging von allem aus, ein unbeschreiblicher Duft von Jugendfrische.

Nein, das paßte nicht zu diesem wohlgepflegten Mädchen – in den Schlamm fallen. Er faßte unwillkürlich fester an.

„Um Onkel ist es mir leid. Er ist so sehr nervös. Mir macht es Spaß,“ erzählte sie in unbefangener Aufrichtigkeit.

„Darf ich fragen: sind die Herrschaften schon weit hergekommen?“

„Immerhin zwei Stunden gefahren. Wir waren bei Verwandten zum Besuch. Taufe – wissen Sie, der arme Onkel muß allerwärts Pate spielen. In unserer Familie giebt es schon gewiß ein Viertelhundert Fritze und Friederiken. Die jungen Eltern meinen immer, es macht Onkel Spaß. Aber es ermüdet ihn so. Und er ist zu gut. Er kann nicht Nein sagen. Nie zu etwas!“

Sie plauderte mit der leichten Mitteilungsfähigkeit junger

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0390.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2020)