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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Eine große, erhebende Arbeit könne man mir leider nicht verschaffen, die mich, neben der Erziehung von Leo und Milly, ganz in Anspruch nähme. So hat diese liebe Susanne denn gebohrt und intriguiert, mir wenigstens eine interessante Abwechselung zu verschaffen, und Onkel Fritz bestimmt, mich zu einer zweimonatigen Reise nach Italien einzuladen.

Onkel Fritz und ich sind uns aber zu fremd, um viel miteinander anfangen zu können; so soll denn die Anstifterin dieses schönen Planes, Susanne, auch mit.

Ich dürfte und sollte freudig jubelnd einstimmen. Meine Kinder sind liebevoll bei meinen Eltern aufgehoben. Ja, ich weiß sogar, daß meine Eltern eine gewisse Befriedigung empfinden werden, die Erziehung und Ernährung von Leo und Milly einige Wochen allein zu überwachen; Papa und Mama haben in diesen Dingen gänzlich von der meinen abweichende Ansichten und schütteln oft den Kopf über unsern reichlichen Verbrauch von Wasser und Luft.

Warum ich nicht juble, oder noch nicht? Zuerst, mein teurer Freund, fiel es mir schwer auf die Seele, daß ich Sie sechs Wochen länger entbehren müsse, als ohnehin schon bevorstand. Denn unsere Reise soll am 1. September beginnen, und dann ist von Ihrer Manöverzeit erst die Hälfte abgelaufen.

Die letzten Wochen haben ein so herzliches und so wundervolles Verständnis zwischen uns erblühen lassen, daß ich gar nicht weiß, wie das Leben aussehen sollte, in welchem unsere Begegnungen fehlten.

Aber dann durchzuckte mich wie ein Blitz die Idee zu einem Plan, der so bezaubernd ist, daß ich mir gar nicht vorzustellen wage, er sei unausführbar!

Haben wir es nicht oft beklagt, daß wir, zwei Freie, zwei Schuldlose, zwei Reine, uns heimlich sehen und sprechen, als hätten wir eine Sünde zu verstecken? Beugen wir uns damit nicht tiefer, als unser Stolz erlauben sollte, einem Vorurteil?

Wie denn, wenn wir im Auslande, fern von bewachenden, engherzigen Philistern, uns begegneten und schöne Stunden gemeinsamen Genusses in Kunst und Natur verlebten? Haben wir nicht zuweilen davon gesprochen, daß für Zwei, die so gleichen Charakters sind, so voll gleicher Interessen, so voll gleicher Lernbegier, es eine höchste Freude sein müsse, zusammen die Welt zu sehen?

Nehmen Sie nach dem Manöver Urlaub und schließen Sie sich uns an, sei es auch nur für Tage!

Meine Susanne ist ein viel zu großdenkendes Menschenkind, um unsere Freundschaft, trotz der Vergangenheit, nicht zu begreifen. Wenn ich mich auf den Markt stellen und es in alle Welt hinausschreien dürfte: ‚ich war sehr elend in meiner Ehe,‘ würden die brutalen Menschen vielleicht auch begreifen, daß ich Sie nicht hassen kann und nicht meiden will. – Susanne also wird begreifen.

Und Onkel Fritz? Ach du meine Güte, Onkel Fritz hat zweiundzwanzig Neffen und Nichten, um die alle er sich ein wenig kümmert und deren Schicksale er heillos durcheinander wirft. Nur Susanne steht ihm wahrhaft nahe; ihr Vater war nicht nur sein Vetter, sondern auch sein Jugendfreund. Und mit Susanne verkehrt er viel. Uns andern, soweit wir Geld von ihm bekommen, läßt er es von seinem Bankier ein für allemal überweisen, und unsere Korrespondenz ist einseitig: sie besteht aus unsern Dankbriefen. Ich selbst sah ihn nur einmal bei meiner Hochzeit. Ich bin sicher, daß er schon oft die Todesart meines Mannes vergaß; den Namen des Duellgegners hat er sich gewiß nie gemerkt.

So können Sie sich uns anschließen, ohne aufzufallen. Warum sollte der Zufall es nicht fügen, daß ich, die ich einst in Berlin mit so vielen Menschen verkehrte, einen Bekannten treffe?

Schwindlig vor Freude und Glück könnte ich werden, wenn ich es mir ausmale: freudig und frei werden wir miteinander, begleitet von der treuesten Freundin und dem guten Alten, durch die Straßen wandern, von Schönheit zu Schönheit! Stunden werden wir erleben, so reich, daß sie noch ihr Licht werfen können über viele Jahre der Zukunft, die so rätselvoll, so dunkel, so drohend vor mir liegt.

Sagen Sie nicht Nein, Achim! Und Ihr Ja sagen Sie mir schnell!
  Sabine.“

Er fühlte den Ton des verzehrendsten Verlangens. Aus jeder Zeile atmete ihre Liebe, die sie kaum zu verhüllen verstand. Er wußte es: er war für sie alles, alles! Seinetwegen würde sie einer Welt trotzen, betteln gehen, Elend, Verachtung tragen. Und dies Bewußtsein berauschte ihn wieder, riß ihn hin, wie es jeden Mann hingerissen hätte.

Er redete sich vor, daß sie recht habe: solche Stunden reichsten Inhalts konnten ihr noch Jahre des Lebens nachher vergolden, und er beschloß, ohne Besinnen, sie ihr zu gewähren.

So gab er ihr einmal, was er ihr geben durfte. Und die Gegenwart ihrer Reisegenossen schloß jede Gefahr des Sichvergessens aus.

Dann, nach so verlebten Tagen voll reinster Geistesgenüsse, dann wollte er von ihr scheiden für immer, und dann würde sie dankbar und zufrieden ihm die Hand zum Lebewohl versöhnt reichen.

Er vergaß, daß die rechte Liebe an ihrer Sättigung immer hungriger wird.

„Teure Sabine,“ schrieb er, „Ja also und aus freudigstem Herzen: Ja! – Lang wird der Urlaub freilich nicht werden, den ich erbitten kann. Aber unter solchen Bedingungen können wenige Tage reichsten Inhalt haben!

Lassen Sie uns, ich beschwöre Sie, bis dahin jede Begegnung vermeiden. Wir wollen nichts mehr wagen, weil uns zu leicht dann das schöne Vorhaben gestört werden möchte. Ich fürchte, man hat uns schon beobachtet und besprochen.

Heute nur dies, mit tausend Grüßen
 Achim.“

Ihre kurze Antwort war ein Jubelruf.

„Vor Wonne weiß ich mich kaum zu fassen! Dank, mein Freund, Dank! Und wenn Sie es klüger finden, daß Sie nicht mehr hinauskommen, so ist es selbstverständlich, daß wir uns nicht sehen. Aber ob die Leute uns beobachten, beklatschen, belauern – das ist mir ganz egal! Ich stehe darüber, denn mein Gefühl ist größer als der Klatsch. Nicht wahr? Sind wir nicht mehr als jene?

Sobald ich unsern Reiseplan genau weiß, schreibe ich.
 Sabine.“

Achim staunte ihre Kühnheit an. „Das ist mir ganz egal!“ Ueber alle Aeußerlichkeiten ging sie hinweg, für ihren stolzen freien Sinn existierten die kleinen Alltagsmenschen gar nicht.

Ich, der Mann, bin wieder einmal der Feige, dachte er.

Nun flogen die Briefe hin und her, bis Achim ins Manöver rückte.

Da erhielt Sabine als letzten Gruß aus Mühlau noch all seine Manöveradressen und sein Bild, das sie sich erbeten. Sie hatte ihm das Bild ihrer Kinder gesandt und versprochen, sich in Mühlau gleich photographieren zu lassen.

Die Truppen zogen am Heinsdorfer Gutshof vorbei. Es war ein lachender Hochsommermorgen. Der Tau perlte im Gras am Rain, und auf den Feldern vor dem Erlenbusch standen bleichgelbe Roggengarben mit melancholisch geneigten Aehrenhäuptern. Die Sonne flimmerte erst hinter den hohen Gartenbäumen, so lag der Gutshof noch im feuchten Schatten.

Und vorn am Thor, Leo an der Hand, stand Sabine; ihr Bruder neben ihr, die kleine Milly auf dem Arm.

Sabine hatte ein weißes Morgenkleid an und einen großen, grünen Sonnenschirm geschultert. Von dem farbigen Rund hob sich ihr schönes Haupt herrlich ab.

Sie nickte allen bekannten Offizieren zu. Aufhalten konnten sich die Herren nicht, sie sollten die anderen beiden Bataillone des Regiments treffen, die aus der nächsten Stadt kamen.

Es war ein Lachen und Grüßen und Leo jauchzte.

Auch Achim von Körlegg kam vorüber und sie wechselten Gruß und Blick. So nahm er das Bild ihrer in Freude glühenden Schönheit mit hinweg.

Sein Mannesstolz regte sich und sein klopfendes Herz sagte ihm:

„So leuchtet sie mir!“

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0367.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2020)