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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Als sie dann den dunklen Blick auf ihn richtete, war ihr Antlitz plötzlich heiter. „Nein!“ rief sie, „das wähne ich nicht. Und ich will ihn auch nicht. Ich habe mir das nur so vorgemacht, weil es mich trieb, mit Ihnen über mich zu sprechen. Sie sollten mich besser kennenlernen. Sie sollten erfahren, daß ich sehr viel Enttäuschungen hinter mir habe und dabei so fest und reif geworden bin, daß ich mir schon zutrauen darf, von mir und – anderen Gefahren fernzuhalten.“

„Sabine!“

„Wollen Sie nach all diesen Geständnissen immer noch Ihre Freundin verlassen? Sie wissen nun ganz, wie arm sie war und ist! Nicht einmal eine Aussicht hat sie, ihrer drückenden Lage zu entrinnen, denn sie will weder diesen Freier noch irgend einen andern. Sie will vom Schicksal nur ein Almosen: Ihre Freundschaft, lieber Achim!“

„Vergeben Sie mir,“ bat er und küßte ihre Hände. Lange saßen sie noch zusammen und sprachen von Sabinens Ehe und von ihren Kindern, von der peinlichen Lage, die nie geändert werden konnte, wenn man nicht die im Grunde so gütigen Eltern verletzen wollte.

In Achims Seele war völlige Unbefangenheit eingezogen. Der unfreundliche Abend, die ernsten Gespräche – all das ließ keine schwüle Stimmung aufkommen. Und weil er jetzt keine Gefahr mehr bemerkte, glaubte er, sie sei für immer verscheucht. Er bildete sich ein, zu Sabinen nun in ein neues, geklärtes Verhältnis getreten zu sein, und empfand darüber ein reines Glück.

Sie verabredeten ihre nächste Zusammenkunft, und auch zugleich, daß sie sich stets brieflich benachrichtigen wollten, wenn Hindernisse entständen.

Aber elend und bleich lag Sabine nachts auf ihren Kissen. Sie hatte sich ihn zurückerobert und sein argloses Vertrauen! Doch um welchen Preis der Selbstbeherrschung! Ihr ganzes leidenschaftliches Wesen zitterte darunter. Aber sie war mit sich zufrieden. Kein Blitz der Augen, kein Zucken ihrer Lippen hatte ihm verraten, was in ihr tobte. –

Fast drei Wochen gingen ihnen ungestört dahin. Sie gewöhnten sich, einander in langen Briefen die Eindrücke des Tages und daran anknüpfend ihre Ansichten von Welt und Menschen mitzuteilen. Mit großem Takt hatte Sabine zu verhindern gewußt, daß Hallendorf eine formelle Werbung anbringe und sich einen Korb hole. Sie ernannte ihn „zu ihrem besten Freund“ und Achim war entzückt, an Hallendorf zu beobachten, wie klug und schmerzlos sie das alles zu machen verstand.

Immer vertrauter ward ihr persönlicher Verkehr. Sie nannten sich stets beim Vornamen. Sabine strahlte in Schönheit und Gesundheit und Achim hörte auf, sich zu bewachen.

Mit Bekümmernis sprachen sie schon von dem nahe bevorstehenden Manöver, das ihnen eine vierwöchige Trennung auferlege. Die Sommerwochen schienen nur so dahinzufliegen. Gelb stand das Korn. Abends war es oft so schwül und so dunkel, daß Achim sich beunruhigte, Sabine allein den Weg zum Gutshof zurücklegen zu lassen. Die ganze Dienerschaft und Arbeiterschaft von Heinsdorf wußte und besprach es längst, daß die junge Frau sich häufig abends mit einem Offizier unter der Franzosenlinde ein Rendezvous gäbe. Die Gutgesinnten meinten, sie wolle wohl bald wieder heiraten. Andere kicherten und machten den Versuch, zu spionieren.

An einem Augustabend, der so dunkel war, daß vom wolkenverhangenen Himmel nicht das Flimmern auch nur eines einzigen Sternes herabdrang, ängstigte sich Sabine um Achims Heimritt und Achim um Sabinens Rückweg. Peinlich empfanden beide, daß sie zu lange im Gespräch verweilt hatten, und Achim fühlte plötzlich, daß es für zwei „Freunde“ doch ein sonderbares Ding sei, sich so heimlich im Dunkeln zu treffen und so lange bei einander zu sitzen. Gerade heute hatte er erst so spät abreiten können, daß die Sonne schon herab war, als er bei der Franzosenlinde ankam.

In schönen, ernsten Gesprächen hatten sie ruhig nebeneinander gesessen. Aber gesetzt den Fall, irgend jemand erführe von diesem Verkehr – würde nicht alle Welt ihn verdächtig finden?

Sehr beunruhigt dachte er: Es geht auch nicht in der Freundschaft. Er schritt mit ihr durch den Erlenbusch. Er wollte sie nicht früher verlassen, als bis man die Lichter von Heinsdorf sah.

Mit dem wachsamen Ohr des Soldaten hörte er im Busch etwas rascheln. Das Geräusch konnte nicht von einem Tier kommen.

Sabine hörte es nicht. Sie war von schweren Gedanken plötzlich geängstigt: mit jenem sechsten Sinn der liebenden Frau spürte sie, daß eine Veränderung im Wesen des Geliebten vorgehe, daß ihn irgend etwas zerstreue, unangenehm verstimme.

„Gute Nacht, Achim,“ flüsterte sie, „lassen Sie mich morgen wissen, ob Sie gut nach Mühlau gekommen sind.“

„Das hat keine Not. Mein Pferd ist zuverlässig und ganz in meiner Hand. Gute Nacht!“

Er stand unbeweglich, aber diesmal nicht, um ihr weißes Kleid noch zu verfolgen, bis es ihm entschwand, sondern er lauschte mit allen Sinnen in den Busch. Die schwarzen Stämme hatten ein anderes Schwarz als das nächtige Dunkel um sie; ihre Körper waren undurchsichtig, die Nacht aber erschien dem an sie erst gewöhnten Blick doch transparent. Wieder war es Achim, als regte sich da etwas. Gewiß, da bewegten sich zwei dunkle Formen zwischen den Stämmen.

„Wer ist da?“ rief er scharf.

Alles blieb still.

Er rief noch einmal. Da ertönte ein kurzes Gelächter, und schwere Schritte im eiligen Lauf verloren sich in der Richtung nach der Franzosenlinde.

Im Dunkel der Nacht stieg Achim das Flammenrot ohnmächtiger Wut und Scham ins Gesicht. Wo hatten sie nur beide ihren Verstand gehabt, er und Sabine? Sie hätten sich doch sagen müssen, daß man sie entdecken und belauern könne. Vielleicht waren sie schon in aller Mund. Und er konnte Sabinens Ruf nicht einmal wieder herstellen!

Sein Zorn gegen sich selbst kannte keine Grenzen. Er beschloß sofort und unverbrüchlich, daß er Sabine nicht mehr sehen, sie nicht mehr kompromittieren wolle. Der Anteil, den sie aneinander nahmen, brauchte sich auch nicht in persönlichem Verkehr zu bethätigen. Wenn sie sich zuweilen schrieben, konnten sie einander viel geben und bleiben.

Er hatte die Vorsicht gebraucht, sein Pferd bald beim Krüger im Dorf, bald eine halbe Stunde entfernt beim Windmüller an der Chaussee, bald in einem kleinen Gehöft kurz vor Heinsdorf einzustellen. Heute stand es zum Glücke in jenem kleinen Gehöft, dessen ärmlicher Besitzer die Mark Trinkgeld immer strahlend einstrich; diesmal wurde Achim geradezu verlegen, als er sein Pferd holte und dem Mann das Geld in die Hand drückte.

Ich bin von Sinnen gewesen, mich und sie in solche Situation hineinzurasen, dachte er.

Aber jetzt hatte er es nicht so eilig, an Sabine einen sie erschreckenden Brief zu schreiben. Er beschloß, das nächste Rendezvous unter einem dienstlichen Vorwand abzusagen, das folgende ebenso. In vierzehn Tagen war das Manöver. Dann wollte er brieflich offen zu ihr sprechen und auch um seine Versetzung einkommen.

Zu seinem Erstaunen bekam er am anderen Mittag einen Brief von Sabine. Sie hatte es gewagt, ihn durch einen Boten hereinzusenden. Er lag auf seinem Tisch, als er vom Dienst heimkam. Da mußte es sich um eilige und wichtige Dinge handeln. Sollte sie auch Beobachtungen gemacht haben wie er gestern abend? Das wäre schrecklich, das hätte er ihrem Stolz gern erspart.

Nein, Gottlob! Ganz andere, geradezu erlösende Nachrichten enthielt der Brief. Er spürte aber aus jeder Zeile die Aufregung, in welcher Sabine geschrieben hatte.

„Mein teurer Freund! Die Morgenpost bringt mir soeben einen Brief, dessen Inhalt von mir schnelle Entschlüsse fordert, die ich aber nicht fassen will, ohne vorher Ihren Rat, Ihren Willen gehört zu haben.

Oft sprach ich Ihnen von meiner treuen Freundin Susanne und vom guten Onkel Fritz. Susanne war noch sehr jung, als sie mir nahetrat, eben sechzehn Jahr. Aber sie hat seitdem alles treu mit mir getragen, begriff schon das Elend meiner Ehe und auch jetzt die Schwierigkeit meines Lebens in Mühlau, die Pein, meinen lieben, ruhebedürftigen Eltern zur Last fallen zu müssen. Sie behauptet schon lange, ich würde das Leben leichter tragen, wenn mein Gedächtnis, statt mit lauter bitteren Erlebnissen, mit schönen Eindrücken und Erinnerungen gefüllt würde.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0366.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)