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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Die Franzosenlinde habe ich mir gleich, als ich Ihre Zeilen empfing, auf der Generalstabskarte gesucht,“ erzählte er.

Nun wußten sie sich nichts mehr zu sagen. Das, was sie qualvoll durchströmte, mußten sie beschweigen. Jedes andere Wort erschien ihnen so nebensächlich. Die ganze Welt zu unbedeutend, um von ihr zu reden.

Die Minuten rannen. Langsam ermattete die Helle, so zögernd schlich das Licht davon, als wollte es die schöne Sommererde nicht gern verlassen.

Achim war sich der Gefahr bewußt, die in diesem langen Schweigen lag. Wie sollte er es enden, ohne ihr, ohne sich weh zu thun?

Sabine war es. die es schroff zerriß. Wieder war es ihr gewesen, als rufe eine klägliche Kinderstimme: Papa – Papa – und noch einmal verhallend, verhauchend: Papa – – Wollte diese Einbildung sie denn immer äffen? Ihr jedes Zusammensein vergällen?

„Es wird dunkel und kalt,“ sprach sie und stand auf.

„Kalt und dunkel – –“ wiederholte er gedankenlos.

„Morgen kann ich nicht hierherkommen, übermorgen auch nicht. Dann hat mein Bruder Gäste,“ sagte sie.

„Ich weiß. Hallendorf erzählte bei Tisch, daß er nach Heinsdorf geladen sei. Hallendorf spricht sehr viel von Ihnen.“

Sie zuckte die Achseln. Langsam ging sie den Weg, der gerade auf den Erlenbusch zuführte. Die Bäume standen schwarz vor dem lichten Abendhimmel. Kein Lüftchen rührte an ihren Wipfeln. Ueber der kleinen Wasserfläche braute ein weißlicher Dunst.

Achim ging neben Sabine her. Das Wort des Abschiednehmens wollte gefunden sein; es fand sich nicht. Endlich reichte sie ihm stumm die Hand. Sie standen schon unter den Bäumen und es dunkelte stark. Er sah in das weiße Gesicht, ihm kam vor, als wäre es flehend zu ihm empor gewandt, als zuckten herbe Bitterkeiten um den Mund. Und doch konnte er deutlich nur die brennenden Augen erkennen.

Er nahm ihre Hand, mit seinen beiden Händen hielt er sie umschlossen.

„Gute Nacht!“ flüsterte Sabine.

„Gute Nacht!“

Sein Haupt neigte sich zu ihr und das ihre bog sich ihm entgegen. Er küßte ihr Haar. Es war nur wie ein Hauch.

Sie lief fort. Er sah ihr weißes Kleid noch schimmern, bis sie im Hofthor von Heinsdorf verschwand.

Wie still es schon auf dem Hofe und im Hause war. Ganz verschlafen und arbeitsmüde schien diese kleine Welt.

Das that Sabine wohl. Niemand sprach zu ihr, fragte sie, störte sie. Sie schwelgte förmlich in der Wonne der gedankenschweren Einsamkeit, jeder Nerv in ihr durchkostete noch einmal die letzte so wortkarge und so unendlich inhaltsreiche halbe Stunde – –

Und während es draußen völlig Nacht ward und die Geräusche des Lebens allmählich ganz erstarben, saß Sabine und schrieb. Einmal hörte sie noch die klappenden Hufschläge eines Pferdes. Ihr Bruder kam heimgeritten. Bald danach knarrte das große Hofthor und fiel krachend ins Schloß. Dann blieb alles still.

Sabine konnte ihr Herz nicht verschlossen halten. Ihr Temperament drängte übermächtig nach irgend einem Ausbruch. Sie mußte es hinaus schreien und jubeln, was sie ganz erfüllte. Ihrer treuen Freundin Susanne durfte sie ihr Inneres ganz offenbaren.

„Warum soll ich Dir verhehlen, was ich mir selbst nicht länger verhehlen kann und will! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn!! Hörst Du es wohl? Und vielleicht haben es Dir schon alle meine Briefe verraten. Und vielleicht entsetzest Du Dich davor. Ich liebe den Mann, der meinen Gatten erschossen hat! Und in mir ist kein Zittern und keine Furcht. Ich stehe nicht unter dem Drucke der Hoffnungslosigkeit. Jeder Pulsschlag sagt es mir: er liebt mich wieder. Sage mir nicht, daß dies in meinem Fall nicht genügt, hoffnungsfreudig zu sein. Sage mir nicht, daß die Verhältnisse Achim und mich voneinander trennen. Ich erkenne sie gar nicht als Hindernisse an, diese Verhältnisse.

Denke doch nach, sieh doch ein bißchen um Dich! Erinnerst Du Dich noch an die Geschichte Witzow-Hamsta? Die ganze Gesellschaft sprach schon zwei Jahre lang über den Baron Witzow und Frau von Hamsta. Natürlich Hamsta war der letzte, der es erfuhr. Dann forderte er Witzow, und Witzow erschoß ihn und heiratete nach einem Jahre Frau von Hamsta.

Dann jene andere Geschichte, die Volkners passiert ist! Frau von Bärenburg lebte in namenlos unglücklicher Ehe, ihre eigenen Eltern drangen auf Scheidung, jedermann wünschte ihr Freiheit. Sie gewann ihren Prozeß und das Gericht sprach ihr auch die beiden Kinder zu. Später lernte sie den Professor Volkner kennen und schloß mit ihm eine sehr, sehr glückliche Ehe. Volkner ward den Kindern ein zärtlicher Vater. Aber Bärenburg verfolgte seine einstige Frau und seine Kinder. Mehr als einmal mußte Professor Volkner ihm Annäherungsversuche energisch verweisen lassen. Umsonst. Bärenburg wußte den Kindern auf Schul- und Spazierwegen aufzulauern, versuchte sie zu beeinflussen, trübte ihre unbefangene Jugendfröhlichkeit. Da forderte Volkner den früheren Gatten seiner Frau, und diesmal behielt das Recht den Sieg: er erschoß Bärenburg.

Solche Geschichten könnte ich Dir ein Dutzend erzählen. In der ersten spielte ein ungeheurer Frevel mit, eine fluchwürdige Todsünde. Und die beiden, die sich liebten, kamen doch zusammen!

Auf Achim und mir lastet nicht der Schatten einer Schuld. Wir lernten uns erst kennen, als ich frei war.

Und solche Komplikationen, wie die arme Frau Professor Volkner erlebte, sind durchaus ausgeschlossen: es lebt niemand, der Achim meine Liebe und die Zärtlichkeit der Kinder mißgönnt.

Soll ich nicht gerade eine wunderbare Fügung des Geschickes darin sehen, daß der Mann, der – Du weißt es – nur erzwungen in jenes Duell ging – der meinen Kindern den Vater nahm, ihnen wieder Vater sein könnte – und sicher ein besserer, als der Tote war?

Aber ich will Dir noch mehr sagen: selbst wenn da Schuld wäre, wenn mich Untergang bedrohte, Elend und Tod! Ich liebe ihn und ich werde mir mein Glück erringen, einer Welt zum Trotz. Es giebt kein Hindernis, wo Liebe ist. Es giebt kein Vorurteil, wo Leidenschaft spricht. Es giebt keine Entsagung vor dem übermächtigen Willen des Gefühls.“


6.

In Verzweiflung ritt Achim heim. Er fühlte es: diese Flammen ergriffen ihn, diese Glut glühte weiter und zu ihm hinüber. Seine Pulse klopften. Er verwünschte sein Schicksal.

Es war ihm, als sei er verdammt gewesen, eine unmännliche Rolle zu spielen, weil er das Weib, das ihm entgegenzitterte, nicht in seine Arme genommen hatte und ihre durstigen Lippen nicht wundgeküßt.

Ich muß ein Ehrenmann bleiben, dachte er.

An ihm war es, zu handeln und die Gefahr zu ersticken, ehe sein Leben und das ihre darin umkam.

Langsamer und langsamer ließ er sein Pferd gehen.

Rings die Landschaft lag in sanftem Schweigen der hellen Sommernacht. Auf einer Koppel, an der er vorbeiritt, ruhten dicht aneinander gedrängt die schweren Leiber schlafender Kühe. Fern blinkte ein Licht aus einem kleinen Gehöft. Weiße Nebelfetzen zogen über tiefer gelegene Wiesen.

Dann kam er in den Kiefernwald und die Stille um ihn her schien bedeutungsvoller zu werden.

Allmählich beruhigten sich seine Nerven. Klar lag vor ihm, was er zu thun hatte. Sabine und er durften sich nicht mehr sehen. Nie mehr!

Auch er saß in der Nacht und schrieb. Aber seine Feder flog nicht über das Papier, seine Lippen öffnete kein trunkenes Lächeln. Auf seiner Stirn stand es feucht, und zehnmal zerriß er, was er geschrieben, ehe er die rechte Fassung fand.

Jede schien ihm brutal. Immer fürchtete er, daß ihr schnöder Sinn war: Sie lieben mich, meine gnädige Frau, ich lehne aber das Geschenk Ihrer Liebe dankend ab. Er durfte nur von sich sprechen, nur von seinen Gefühlen, von der Gefahr, die er für sich empfand. Was er aus ihrem Wesen erraten hatte, das mußte er vergessen, mußte blind und verständnislos scheinen.

Schließlich gab er seinem Brief diese Fassung:

„Meine hochverehrte teure Freundin! Nicht wahr, so darf ich Sie nennen, Ihre Güte scheint mir das Recht zu geben, und offen, wie ein Freund zum andern, will ich mich zu Ihnen aussprechen. Ich nahe mich Ihnen in einer schweren Stunde, schwer, weil ich mich Ihnen in all meiner menschlichen Schwachheit zeigen muß.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 360. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0360.jpg&oldid=- (Version vom 16.4.2022)