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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Mutter von Wendessen herübergekommen und blieb zum Abendessen. Gleich bestand Sabine darauf, daß Reinald von morgen an, wie er es gewohnt gewesen, nach der Tagesarbeit nach Wendessen reite. Niemand sollte irgend eine Störung durch sie erleiden, am wenigsten sollte Martha den geliebten Bräutigam entbehren. Mit einem bezaubernden Lächeln bat sie um Erlaubnis, gelegentlich mit nach Wendessen hinüberkommen zu dürfen, wenn sie erst etwas wohler geworden sei. Martha und ihre Mutter waren wieder entzückt und Sabine hatte für sich und die andern die Situation ganz klar festgelegt.

Nun konnte das Idyll anfangen. Sabine wartete sozusagen empfangsbereit darauf, daß die Landluft ihr und den Kleinen wohlthun und das Zusammensein mit dem geliebten Bruder ihrem Gemüt Frieden geben solle. Aber schon gleich am andern Tag stellte sich heraus, daß die Geschwister nicht recht etwas miteinander anzufangen wußten. Und zwar trotzdem sie beide eine seltene seelische Feinheit von Natur besaßen. Aber bei ihm war diese Feinheit zur keuschen Verlegenheit geworden, bei ihr zur vollkommenen inneren Freiheit und äußerlichen Gewandtheit. Waren sie nun zusammen, so fühlte Reinald eine Art Scheu, Sabine eine leise Ungeduld. Dennoch liebten sie einander von Herzen.

Mit den Kindern war Reinald ganz besonders liebevoll. Sie hatten auch gleich von Heinsdorf Besitz ergriffen, als sei es bloß ihretwegen da. Sie tobten im großen alten Garten umher und sahen mit nie ermüdendem Interesse in den Ställen dem Vieh zu. Kein Ackerwagen verließ den Hof, ohne daß Leo nicht stolz auf dem Handpferd bis zur Thorpforte mitritt, vom Knecht gehalten. Von Leos Pflegebedürftigkeit war gar keine Rede mehr, alle Schwäche hatte er in Mühlau gelassen.

Am zweiten Tage ihres Aufenthalts ging gegen Abend ein solches Gewitter nieder, daß Sabine begriff, sie könne nicht zur Franzosenlinde wandern.

Am dritten Tag erwartete sie fieberhaft die Zeit. Während Lisbeth die Kleinen zu Bett brachte und Reinald nach Wendessen ritt, verließ Sabine den Wirtschaftshof. Der war ein Viereck, gebildet durch die Front des Schlosses, die beiden Riesenscheunen und vorn an der Chaussee das hohe Gitter, darin eine mächtige Pforte ihre Flügel offen hielt. Geradegegenüber führte von der Chaussee ein Landweg zwischen Feldern hin, zu einem kleinen Erlenbusch. Die Felder trugen das grünwogende junge Korn, bräunlich schimmernd reckten sich die Ähren aus den Halmen. Der Erlenbusch bestand aus ein paar Dutzend alten Bäumen, die sich unregelmäßig um einen Wassertümpel gruppierten. Dann hob sich das Gelände, und wenn man dem Weg noch zehn Minuten weiter folgte, kam man zu einem Aussichts- und Höhepunkt, welcher den Stolz des Gutes Heinsdorf bildete.

Da stand eine uralte Linde, unter welcher einmal ein Franzose erschossen worden sein sollte. Das vermooste Steinkreuz neben dem Baum sollte von seinen Angehörigen errichtet sein. Unter dem Großen Kurfürst hatte sich dies, der Legende nach, begeben. Von dem Höhepunkt stieg eine lange schmale Thalmulde ziemlich steil hernieder. Man übersah sie ganz, denn ihre Sohle war nur von Wiesengrün ununterbrochen bedeckt. Aber zu ihrer Rechten und zu ihrer Linken zogen sich breite Waldstreifen hinab, die ihre ersten Bäume bis zur Linde heraufschickten.

Fern, unten mündete die Thalmulde im flachen Land, durch das sich breit und flimmernd der Fluß wälzte. Drüben blieb die Gegend flach und erschien anmutig bunt überwürfelt von Dörfern, Feldern, Waldflecken.

Weit war der Horizont, wie herrschend über der Landschaft stand man, wenn man sie von der Franzosenlinde aus betrachtete. Schon stand die Sonne sehr tief. Blank und ein vibrierendes Strahlengefunkel rund um sich aussendend, ging sie am hellen Himmel nieder.

Sabine saß auf der Bank, das graue Steinkreuz neben, den Lindenstamm hinter sich, und wartete.

Das Thal ward grüner, der Wald dunkler, die Luft feuchter. Die Linien und Farben drüben jenseit des Flusses verschwammen in bläulichen Tönen. Die Sonne war weg, und hoch oben am weißklaren Himmel färbte sich ein dünnes Gewölk schimmernd rosig.

Kein Schritt erklang. Niemand kam. Fröstelnd, mit Schwere in allen Gliedern ging Sabine heim. Die Enttäuschung lähmte ihr Seele und Leib. Sie fühlte sich geradezu krank.

So hatte sein Herz doch nicht verstanden – – Ihr Stolz wachte auf und beruhigte sie: ihre Schlußworte waren ja ein Abschied gewesen. Und dennoch fuhr sie fort zu leiden.

Enttäuschung erschien ihr von allen Qualen des Lebens eine der grausamsten. Stunden, Tage, Nächte sind nur erträglich gewesen durch heimliches, wonniges Warten auf einen Augenblick des Glücks. Der Augenblick kommt, das Glück bleibt aus – ach, das that wohl allen Menschen gleich weh! Mir besonders, dachte Sabine, ja, mir besonders, denn ich habe so heiß gewartet und schon so viel gelitten!

Am folgenden Tage kündigte Reinald beim Frühstück schon freudestrahlend für den Abend den Besuch seiner Schwiegereltern und seiner Braut an. Kaum erzwang Sabine ein blasses Lächeln. Sie kommen etwas oft hierher, die guten Leute, dachte sie. Mit dem festen Vorsatz war sie aufgestanden, heute abend keinesfalls zur Franzosenlinde zu gehen, um nicht die Marter einer neuen Enttäuschung zu erleben. Nun sie gewiß wußte, daß die Umstände sie verhindern würden, zu gehen, dachte sie erbittert: Also auch hier Zwang.

Der vierte Tag auf Heinsdorf schien sich in eine qualvolle Ewigkeit umgewandelt zu haben. Sabine sah so bleich aus, daß Reinald sich ängstigte. Er fürchtete, sie entbehre eine Zerstreuung.

„Sonntag essen Hallendorf und Bläser hier. Martha kommt allein. Da du hier bist, kann sie es ganz gut. Wir wollen recht vergnügt sein. Hallendorf ist ein Prachtmensch,“ erzählte Reinald.

An diesem Tag fehlte Sabine selbst die Kraft und das Interesse, sich viel um ihre Kinder zu kümmern.

Aber endlich neigte es sich zum Abend und Sabine eilte mit unsicheren Schritten und klopfendem Herzen an ihren Lieblingsplatz, ohne Hut, ohne Mantel, wie jemand, der nur fünf Minuten in den Garten will. Sie hatte es sich gelobt: kommt er heute nicht, so bin ich ihm gleichgültig und will ihm auch keine Gedanken mehr gönnen. Dabei fühlte sie, daß dies Gelöbnis eine Selbsttäuschung erzwungenster Art war. „Fünf Minuten will ich warten, länger nicht,“ sprach sie zu sich.

Und als sie noch drei Schritte von der Linde war, schrie sie auf.

Da saß er. Der alte Stamm hatte ihn ihr verdeckt. Ihr Schrei erreichte ihn. Er sprang auf. Bleich, in sinnloser Erregung standen sie einander gegenüber. Sabine glaubte umzusinken. Er legte den Arm um sie und führte sie zur Bank.

„Acht Tage – acht Tage!“ murmelte sie.

Ja, acht Tage hatte sie ihn nicht gesehen. Das Warten hatte sie zermürbt. Sie wußte nichts mehr davon, daß sie sich bewachen wolle und müsse, daß ein Weib sich nicht so verrät. Sie fühlte nur ein sinnloses Glück, ihn zu sehen, ein wildes, leidenschaftliches Glück. Ihre Blicke hingen an seinen Zügen, ihre eiskalte Hand preßte wieder und wieder die seine.

„Oh mein Gott!“ sagte er erschüttert.

Sie saßen still zusammen. Sabine sah ihn an, als könnte sie es immer noch nicht fassen, daß er es sei. Langsam breitete sich ein strahlendes Lächeln über ihr Angesicht, und ihre Leichenblässe schwand.

Achim saß mit fest verschlossenen Lippen. Ein eiserner Ausdruck trat in seine Züge. Ich muß Mann bleiben! dachte er verzweifelt. Er sah es, er mußte es begreifen, was er längst bebend gefürchtet und gehofft: dieses heiße, schöne Weib glühte für ihn.

„Wie geht es Leo?“ fragte er endlich.

„Gut!“ sagte Sabine mechanisch.

Und wieder Schweigen.

„Gestern war ich hier vergebens,“ sprach er.

„Und ich vorgestern.“

Er drückte ihr die Hand; sie hatten einander noch gar nicht losgelassen.

Unten, jenseit der weiten, friedlichen Landschaft sank die Sonne. Hinterm Waldstreifen rechts lag das Dorf; man sah es nicht, aber ein klingendes Hämmern kam schwach daher. Quer über die Thalmulde schritten ein paar Arbeiter, sie gingen durch den Wald heim ins Dorf.

Sabine trachtete, sich zu sammeln.

„Wie sind Sie gekommen? Doch nicht zu Fuß? Fanden Sie den Platz leicht?“ fragte sie.

„Ich habe mein Pferd beim Krüger im Dorf eingestellt.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0359.jpg&oldid=- (Version vom 8.12.2020)