Seite:Die Gartenlaube (1899) 0357.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Halbheft 12.   1899.


Nur ein Mensch.

Roman von Ida Boy-Ed.
(3. Fortsetzung.)


Sabine und Achim kamen sich jeden Tag näher und jeden Tag kam es ihnen selbstverständlicher vor, daß sie miteinander verkehrten, weil ihre Gespräche von den hohen, erschütternden Seelenleiden herabgestiegen waren zum kleinen Inhalt des Alltagslebens.

Sie glaubten auch, daß niemand ihre Zusammenkünfte bemerkt habe. Aber es war natürlich unmöglich, sich acht Tage lang so dicht vor den Thoren von Mühlau zu treffen, ohne daß man gesehen wurde.

Eines Tages fragte die Oberamtmännin: „Was ist denn das für ein Offizier gewesen, mit dem du gestern vor dem Berliner Thor auf dem Heideweg auf und abgingst? Davon hast du ja nichts erzählt!“

Das war harmlos gefragt, einfach aus der Annahme und Gewohnheit heraus, daß alle Familienmitglieder auch die nebensächlichsten Ereignisse des Tages mitzuteilen pflegen. Der Rechnungsrat Müller hatte Sabine gesehen und auch Herrn von Körlegg zu erkennen geglaubt, doch eher seinen Augen mißtraut, ehe er so Unmögliches annahm.

„Ich?“ sagte Sabine, „ich erinnere mich nicht.“

„Herr Gott, Rechnungsrat Müller hat dich doch gesehen und noch zu seiner Frau gesagt, wie er sich freue, daß du nicht mehr an allen Menschen so stolz und stumm vorbeigehest.“

„Ach ja,“ sagte Sabine und gewann allmählich ihre Farbe wieder, „es war Bläser, der sich lang und breit nach Leo erkundigte.“

„Bläser ist ein netter Mensch,“ bemerkte die Oberamtmännin und dachte dabei: Wie konnte dieser Schafskopf von Müller sich nur einbilden, daß sie mit Herrn von Körlegg sprechen würde.

An diesem Abend war „Trio“. Sabine mußte, da Leo schon seit halb Sieben fest schlief, wieder zugegen sein.

Das unglückliche H dur-Trio von Brahms war von den Spielern immer noch nicht so bewältigt, daß sie glaubten, mit sich zufrieden sein zu dürfen. Aber Kolvater sowohl als Turibius hatten ihren Part nun merklich besser inne als die Oberamtmännin. Sie erlaubten sich Ungeduld zu markieren, und beim Beginn des Scherzo sagte Turibius:

„Na, auf Wiedersehen bei der Fermata.“ Von Streitereien und Empfindlichkeiten unterbrochen, zog das Allegretto dahin; Sabine hörte es zuletzt nur noch im Takt in ihrem Kopf bumsen.

Der Schreck über die Frage ihrer Mutter kehrte zurück. Sie grübelte hin und her. Wer in aller Welt konnte etwas in ihrem Verkehr mit Achim finden!

Wäre ich arm, meine Kinder in Not, weil uns der Ernährer fehlt, würde nicht die ganze Welt begreifen, daß Achim den Wunsch hätte, uns sein


Nach einem Kohledruck von Braun, Clément & Cie. in Dornach i. E., Paris und New York.

Velazquez.
Selbstbildnis des Malers.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0357.jpg&oldid=- (Version vom 31.10.2020)