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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Noch einmal schrie sie den Namen des Jägers in den wallenden Rauch, und als sie keine Antwort hörte, klammerte sie sich an die Hoffnung, daß er den rettenden Weg gefunden hätte, den ihr das wachsende Feuer verschloß. Ihr selbst blieb jetzt nur dieser einzige Weg noch, dieser unmögliche: über die Berge hinauf, um den Paß in das andere Thal zu gewinnen. Ein Weg, auf dem in der Finsternis der tödliche Sturz sie erwartete bei jedem Schritt – aber sie mußte ihn versuchen, es blieb ihr kein anderer. Wohl dachte sie einen Augenblick daran, im höheren Felsenthal eine geschützte Stelle zwischen kahlem Gestein zu finden – aber der Rauch, der sich dichter und dichter herwälzte über den See, mußte, wenn die grünen Latschenfelder bis hoch hinauf ins Glühen kamen, das ganze Thal erfüllen und alles atmende Leben ersticken.

Sie faßte den Halsriemen des Esels, um das Tier mit sich fortzuführen. Aber es sträubte sich und wollte nicht von der Stelle – immer wieder, unter Zittern und Schnauben, drehte es den Kopf nach dem brennenden Wald zurück. Lo’ redete ihm zu mit schmeichelnden Worten und zerrte am Riemen – ein paar Schritte folgte das Tier mit Zögern, dann jählings, als hätt’ es die Absicht seiner Herrin verstanden, als hätt’ es begriffen, welchen rettenden Weg es zu suchen galt, begann es zu traben, immer rascher und rascher, das Mädchen mit sich fortreißend, das an den Riemen geklammert hing. Den auch bei Tage nur schwer erkennbaren Steig, der über die steilen Latschengehänge emporführte zu den öden Felsenkaren – Lo’ hätte ihn wohl nie gefunden bei diesem unruhigen Wechsel zwischen trüber Feuerhelle und rauchschwarzer Finsternis – aber die nachtsehenden Augen des Tieres fanden ihn. Schnaubend zerrte es seine Herrin mit sich hinauf, eine Latschenhöhe nach der anderen überwindend, bis sie das kahle Gestein erreichten. Da blieb es stehen, erschöpft und mit vorhängender Zunge, von welcher der Geifer niedertropfte – es wollte nicht weiter, legte sich auf die Steine nieder und begann an seinen Knien zu lecken.

Auch Lo’ war atemlos zu Boden gesunken. Mit dem Rücken an das Tier gelehnt und halb erstickt vom Gewirbel des Rauches, hielt sie die Hände auf ihre kämpfende Brust gedrückt. Ein brausender Windstoß jagte den Rauch, und vor den Augen des Mädchens lag es dort unten wie eine lodernde Hölle. Der ganze Sebenwald eine einzige ungeheure Flamme! Rings um den See her brannten schon alle Latschenfelder, bald in rote Glut versinkend, bald wieder aufleuchtend mit weißem Feuerglanz, wenn der Wind darüber hinfuhr. Aus diesem Glutfeld ragte eine dunkel qualmende Säule hervor: der Harfenbaum, der den Flammen noch widerstand – und daneben loderte eine hohe Feuergarbe: das brennende Seehaus.

Als Lo’ diese Flamme sah, sprang sie auf mit schluchzendem Schrei.

„Vater! Vater! Unser Haus … deine Blumen!“

Thränen stürzten aus ihren Augen, und in der ersten Marter dieses Anblicks wollte sie ins Thal hinunter und dem Feuer entgegen, als könnte sie noch retten, diesen Flammen noch wehren. Doch wehender Rauch quoll ihr entgegen, schwarz und schwer, das Bild des Brandes verhüllend.

Sie rang nach Atem, einer Ohnmacht nahe. Schon wollte sie mit taumelnden Sinnen zu Boden sinken – doch wie von einem Strom neu quellenden Lebens durchflosscn, richtete sie sich wieder auf und streckte mit zitterndem Laut die Arme in das Dunkel. Ihr war, als stünde der Vater vor ihr, in Heller Sonne, ruhig und lächelnd – und seine Stimme hörte sie, mit jenem gleichen, von Liebe durchwärmten Klänge, wie einst: „Komm, Lo’! Meine liebe, gute kleine Lo’! So komm doch!“ Er reichte ihr die Hand, als ob er sie führen wollte – sie meinte diese Hand zu fassen, sie fühlte ihren Druck – aber da war es nicht mehr ihr Vater, es war ein anderer, der vor ihr stand, lächelnd und leuchtenden Auges, mit der gleichen Liebe im Ton der Stimme: „Lo’! So komm doch!“

„Heinz!“

In Schmerz und Freude schrie sie diesen Namen – und da war alles dunkel vor ihr, alles verschwunden, was ihr fieberndes Blut und ihre erregten Sinne gesehen hatten.

Doch in ihren Gliedern war neue Kraft, neuer Wille zum Leben. Bei dem matten Feuerschein, der das zerfahrende Gewölk durchschimmerte, erkannte sie deutlich im Felsenkar den Steig, den sie gehen mußte. Mit starker Hand riß sie das ruhende Tier von der Erde auf – und als es ein paar Schritte mit Gewalt gezogen war, folgte es wieder willig seiner Herrin und ihrem lockenden Ruf. Hastenden Schrittes eilte sie, solange der Feuerschein noch währte, durch das öde Felsenkar. Dann umhüllten sie wieder die jagenden Rauchwolken und das Dunkel der Nacht. Tastenden Fußes mußte sie den Weg suchen. Immer wieder verlor sie ihn und fand ihn immer wieder. Felsen sperrten den Pfad – das mußte die Wand sein, die sie zu übersteigen hatte – und dieses Felsenband, auf das ihre Füße traten, das war der Weg, der über die Wand hinaufklomm bis zur Höhe des Passes. Sie stieg und stieg, doch immer schmäler wurde das Steinband unter ihren Füßen. Weit hinter sich vernahm sie das Schnauben des Tieres, das ihr folgen wollte, das Rollen der Steine, die seine Hufe lösten, und jetzt den Fall eines schweren Körpers, welcher tiefer und tiefer stürzte. Eine Weile noch raffelten die nachrollenden Steine – dann war es still dort unten.

Sie wollte schreien, doch die Stimme versagte ihr.

Jetzt hörte sie in schwarzer Tiefe das Aechzen des sterbenden Tieres, und da schlich auch ihr das kalte Todesgrauen in die Seele. Zitternd hing sie an die Felsen angeklammert, während fern das dumpfe Brüllen der letzten, noch irrenden Rinder klang und stickender Rauch immer dichter die finsteren Lüfte füllte. Kein Laut mehr in der Tiefe zu ihren Füßen, kein Aechzen und Stöhnen mehr – das Tier war erlöst von seiner Qual.

Da atmete sie auf, ihre Schwäche und das Todesgrauen überwindend, das sie befallen hatte. Leise sprach sie ein Wort ihres Vaters vor sich hin: „Tod? Das ist nur ein Wort, nur das letzte Lächeln eines guten Menschen, der mit seinem Leben zufrieden war … wann und wie es auch endet.“ Und sollte ihr Leben auch erlöschen in dieser Nacht, dort unten in dieser schwarzen Tiefe, ferne von Mutter und Bruder – wie war es doch reich gewesen, reich und schön ohnegleichen, vom ersten, fröhlichen Lachen des Kindes an, bis zum letzten Händedruck jenes Einen, der ihre Seele und ihr Herz in seine Hand genommen hatte wie einen Besitz, der ihm zu eigen war über Tod und Leben hinaus!

Sie flüsterte seinen Namen – und das war ihr wie ein Abschied, den sie nahm von dem geliebten Manne, nicht für den Tod – fürs Leben nur!

Denn sie fühlte, daß sie leben würde – jetzt, da die Furcht des Todes von ihr abgefallen war, jetzt konnte sie an den Tod auch nicht mehr glauben.

„Mutter! Bruder!“

Der Gedanke an diese beiden richtete sie auf – um dieser beiden willen mußte sie ringen um ihr Leben, stark und mutig, bis zum Erlöschen ihrer Kräfte. Sie rastete, an die Felsen gelehnt, um ihren Atem in Ruhe zu bringen, und preßte ihr Tuch vor die Lippen, um sich gegen den Rauch zu schützen, der emporquoll über die Felsen. Und während sie hinausblickte in die von dunklem Gewirbel erfüllten Lüfte, sah sie nicht das wogende Gewölk und nicht die schwarzen Felsen um sie her – sie sah die Stube der Mutter und das Kämmerchen des Bruders. Die waren still und dunkel – und dennoch erkannte sie jedes Bild an den Wänden, jedes Gerät, sah den schlummernden Knaben und die wachende Mutter, die sich in ihrer schlaflosen Immersorge aus den Kissen aufrichtete, um auf die Atemzüge des Buben zu lauschen – und hörte, wie die alte Frau vor sich hinflüsterte: Gott sei Dank, er schläft, da kann er doch keine Schmerzen haben! Morgen wird sein Fuß wieder gut sein … und Lo’ wird kommen! Ach ja!

„Morgen!“ Wie ein heißer Strom der Freude und Sehnsucht rann es ihr durch Blut und Seele. Morgen! Die beiden wiedersehen! Morgen im Frühlicht! In Sonne! Sie erhob sich, und in ruhiger Vorsicht begann sie sich mit Händen und Füßen an den Felsen hinzutasten, höher und höher klimmend.

„Mutter! Bruder!“

Sie stieg und stieg, bei jedem Schritt um ihr Leben kämpfend, an das sie glaubte.

(Schluß folgt.)
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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 352. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0352.jpg&oldid=- (Version vom 15.8.2023)