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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Nein, eifersüchtig war Sabine nicht. Eigentlich zu ihrer eigenen Ueberraschung, denn sie hatte sich immer eingebildet, es würde für sie einen inneren Konflikt schaffen, wenn der Bruder ohne ihren Rat sich verlobe. Für ihn war ihr früher die Beste nicht gut genug gewesen. Beinah’ war sie darüber traurig. Sie wünschte, sich seelisch tief erregen zu können. Aber es war ihr beim besten oder beim bösesten Willen nicht möglich, für Martha Voigtstedt, als man sich dann am Sonntag sah, etwas anderes aufzubringen als herzlichstes Wohlwollen.

Man fuhr schon um zehn Uhr ab. Es war eine ganze Expedition. Mit niedergeschlagenem Verdeck fuhr die große Kutsche vom „Hotel zum Kronprinzen“ pünktlich vor; alle Nachbarn waren an den Fenstern, nur Hauptmann von Hallendorf nicht, der noch schlief und so nachher bei seinem Besuch nur die Köchin Guste fand. Leo und Milly tobten schon im Wagen umher, ehe noch Lisbeth den Platz neben dem Kutscher eingenommen hatte und die Großen erschienen.

Der Oberamtmann und seine Frau strahlten und grüßten zu Küps hinüber und zur Frau Rechnungsrat Müller hinauf.

„Ich will auf Opa sein Schoß,“ schrie Milly jauchzend.

„Ich auch!“ kreischte Leo.

Und der alte Mann nahm auf jedes Knie ein Kind. Die Oberamtmännin schüttelte lächelnd den Kopf zu der Schwäche, hätte aber auch ihrerseits beide Kinder auf den Schoß genommen, wenn sie es verlangt haben würden.

Sabine im weißen Kleid und schwarzen Hut, schön und schlank anzusehen wie ein Mädchen, saß auf dem Rücksitz.

Die Fahrt war lang. Zwei und eine halbe Stunde brauchte man bis Wendessen. Die Kinder waren sehr unruhig. Endlich zog der Oberamtmann eine Tüte aus seiner hinteren Rocktasche.

Gegen diese Tüte, die sich immer ergänzte und eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Oelkrüglein der Witwe zu haben schien, hatte Sabine ein stetes Mißtrauen. Ja, sie war ihr ein stilles Aergernis. Die Schokoladenbonbons von Herrn Küps schmeckten verdächtig nach gebranntem Mehl. Auch war die Tüte in der hinteren Rocktasche manchen Püffen ausgesetzt, und nicht immer war der Anblick der zerkrümelten Plätzchen und der zerquetschten Pralinees sehr appetitlich, was Leo und Milly natürlich nicht weiter anfocht.

Die Kinder jubelten beim Anblick der Tüte.

„Bitte, Papa, gieb den Kindern keine Bonbons! Auf Wendessen werden sie ohnehin mehr Kuchen bekommen, als ihnen gut ist,“ bat Sabine dringend.

„ih – – so ein kleiner Bonbon schad’t keinem Kind was. Nich, Leo?“ fragte der Alte. Leo schrie: „Nein, nein!“

„Aber wirklich, Papa! Ich bitte dich! Leo zumal gefällt mir nicht ganz heute. Sein Kopf scheint heiß.“

Ungeduldig sprach der Oberamtmann: „Ich werd’ meinen Enkeln doch wohl noch einen Bonbon geben können!“

„Wirklich, Sabine, du bist zu ängstlich. Wir verstehen doch auch was von Kindern,“ bemerkte die Mutter ärgerlich.

Sabine schwieg. Eine kleine Verstimmung legte sich über die Wageninsassen. Leo und Milly aßen, zwischen des Großvaters Knien stehend, aus der Tüte, die er in beiden Händen hielt.

In ziemlicher Entfernung hinter dem Wagen her trabte ein Reiter. Sabine bemerkte es erst jetzt, da sie von der sie beängstigenden Beschäftigung der Kinder lieber den Blick fort und ins Weite richtete.

Es war einer der Herren vom Regiment. Reinald hatte von Herrn Voigtstedt die Erlaubnis bekommen, zwei derselben, die ihm besonders nahe standen, auch für heute nach Wendessen zu laden.

„Hinter uns reitet Bläser oder Langhans,“ sagte sie, froh, ein gleichgültiges Gespräch zu haben.

Aber die Alten waren noch beleidigt und sagten bloß: „So“, ohne ihre Aufmerksamkeit von den schmausenden Kindern zu wenden.

Der schwere, altmodische Landauer kam auf dem Landweg nur langsam weiter, der Reiter näherte sich schnell. Und da sah Sabine, daß es weder Leutnant Bläser noch Herr von Langhans war – –

Und auch der Reiter erkannte die Wageninsassen; Sabine auf dem Rücksitz zeigte ihm ja voll ihr Angesicht.

Er blieb nun so dicht hinter dem Landauer, daß er dieses Frauenangesicht fest im Auge behalten konnte. Sein Pferd ging im Schritt. Er dachte gar nicht daran, daß Sabinens Eltern sich umwenden und ihn, Achim von Körlegg, erkennen und sein langsames Hinterdreinreiten verwunderlich finden könnten.

Sabine glaubte ohnmächtig zu werden vor Angst und Schreck. Sie war leichenblaß. Aber mit großen Augen sah sie unverwandt hinüber.

Die Kinder krabbelten mit ihren Fingerchen schon auf dem Grunde der Tüte und sagten: „Dleich alle – dleich darteine mehr!“

Die Situation im Wagen konnte sich jede Sekunde ändern.

Die brennenden Blicke unverwandt auf des Reiters Gesicht geheftet, schüttelte Sabine langsam das Haupt.

Er hatte verstanden – er wandte auf der Stelle sein Pferd und jagte zurück. Da kletterte auch gerade schon Leo auf den Sitz zwischen den Großeltern und schrie: „Da reitet ein Soldat!“

Der Oberamtmann wandte sich um und sah dem Reiter nach.

„Dann ist es doch wohl nicht Bläser oder Langhans gewesen. Kanntest du ihn?“

Sabine schüttelte den Kopf. Ihr Herz klopfte. Nun war der Tag doch nicht so leer und lang!

Der Rest der Fahrt schien ihr unglaublich kurz, und mit hinreißender Liebenswürdigkeit bezaubcrte sie nachher alle Wendessener.

Martha, die Braut, hatte sich vor der schönen Schwägerin geängstigt, von der die Mühlauer und die Offiziere sagten, sie sei unnahbar stolz und unheimlich klug. Nun hielt Sabine das blonde, frische Mädchen in den Armen und küßte ihr die Wangen und sagte ihr dann den ganzen Tag noch viele liebe, gute Worte. Martha war selig und trieb von Stund’ an einen förmlichen Kultus mit des Verlobten Schwester. Mit dem Vater Voigtstedt, einem derbfröhlichen Mann von sechsundvierzig Jahren, kokettierte Sabine förmlich, so daß der mehr als ein stilles, anerkennendes „Donnerwetter, da steckt Rasse drin“ dachte. Frau Voigtstedt war das frühgealterte Ebenbild ihrer Martha, doch glich die untersetzte, üppige Gestalt derjenigen der Tochter noch fast vollkommen. Nur um die hellblauen Augen saßen schon viel Krähenfüße, und ein herber Zug ging vom Stumpfnäschen zum schwellenden Mund herab. Man sagte, Herr Voigtstedt gäbe seiner Frau viel Grund zur Eifersucht. Jedenfalls hatte er eine plumpe Art, darüber zu scherzen, daß Weiber nichts mehr taugten, wenn’s mit der Jugend erst bergab gehe. Sabine fand nun wiederholt und laut eine geradezu zum Verwechseln auffordernde Aehnlichkeit zwischen der jugendlichen Mutter und der schon merkwürdig gereift aussehenden Tochter, was Frau Voigtstedt sehr wohlthat.

Mit Marthas kleiner halbwüchsigen Schwester und dem Bruder, einem langen Bengel, der vor Tappsigkeit sich und andere immer stieß und trat, plauderte sie ermutigend.

Sie heuchelte nicht. Es war ihr ein Herzensbedürfnis, den Bruder glücklich zu machen, rings Behagen zu erwecken.

Ihre Seele war wie beschwingt. Und während sie mit diesen fremden, ach, ihr so wildfremden Menschen intim lachte und sprach, sah sie immer jenen langen, stummen, beredten Blick vor sich – –

Der Tag ging zu Ende, und man fuhr heim. Leo und Milly weinten, waren übermüde und schliefen endlich, ihre Köpfchen an Sabinens und Lisbeths Schultern, denn nun saß Lisbeth mit im Wagen. Und das war auch nur gut, denn Milly wurde es sehr übel, sie erbrach sich über den Wagenrand hinaus. Der Oberamtmann schalt, daß man auf Wendessen die Kinder überfüttert habe und daß er selbst von dem Bordeaux Voigtstedts einen Brummschädel kriegen werde und daß Reinald da reformierend eingreifen müsse. Es schien, daß die vielen Freuden des Tages alle sehr übellaunig gemacht hatten und daß alles, was man an Liebenswürdigkeit besaß, verausgabt und ausgeschöpft war.

In den Mühlauer Straßen brannten schon die Gaslaternen, als man endlich vor dem Hause hielt und die ermüdeten Kinder, die bleischwere Körper hatten, hinauftrug.

Sabine fühlte sich wie zerschlagen, als sie endlich im Bett lag. Es war ein anstrengender Tag gewesen. So aufreibend. Ein Kräfteverbrauch eigentlich ohne Zweck und Grund. Denn wurde dadurch Reinalds Glück gehoben, daß die beiden Familien sich einen ganzen Tag lang in plötzlicher Intimität gegenseitig krampfhaft füreinander zu interessieren trachteten? Hatte sie den ganzen Tag ein Wort gehört, das ihr Anregung oder gar Erleuchtung gebracht? –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0330.jpg&oldid=- (Version vom 13.10.2020)