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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

bis zum ersten Mai eine Aufwartefrau für die Morgenstunden nehmen und tagsüber die Kleinen selbst besorgen.“

Die Geister der Eltern waren durch den Vorfall noch zu erregt, sie konnten jetzt nicht an Rücksichten und an Sabinens „Selbständigkeit“ denken. Es entfuhr der Mutter: „Das schadet auch nichts, wenn Sabine ein bißchen mehr zu thun bekommt als bisher.“

Sabine wurde dunkelrot. Sie richtete sich höher auf. Ihr Blick, düster und tief, ging an allen Anwesenden vorbei. Sie sah durchs Fenster, in den grauen Himmel, ins Grenzenlose, ins Ungewisse – – – Und ein schwerer Seufzer zitterte von ihren Lippen.

Der Oberamtmann gab seiner Frau einen mahnenden kleinen Puff. Er billigte diese Aeußerung nicht, wenngleich er deren Richtigkeit innerlich durchaus beistimmte. Aber was sollte die arme Sabine machen? Man konnte doch nicht die treue Guste abschaffen, damit Sabine sich mehr um die Küche zu bekümmern vermöge. Die Pflicht, das Küchendepartement unter sich zu haben, hatte für die Vorstellung des Oberamtmanns etwas Befriedigendes, Lebenausfüllendes. Auch der Mutter that es sehr leid, Sabine gekränkt zu haben. Doch gehörte sie zu jenen Naturen, die immer glauben, sich eine Blöße zu geben, wenn sie einen begangenen Fehler eingestehen.

Sich künstlich zum Weitergrollen zwingend, sagte sie halblaut: „Na ja, es ist doch wahr. Es liegt in den Verhältnissen. Ich betone es auch nur, ein Vorwurf soll es nicht sein.“

Das wußte Sabine auch. Aber es that doch weh, sehr weh.

Die Anforderungen der Kinder und all die kleinen unbequemen Folgen des Auftritts rissen Sabine aus ihren Grübeleien.

Die Kinder wollten endlich trinken. Dann sollte die schluchzende Lisbeth abgelohnt werden. Es galt, das triumphierende Gesicht der Köchin Guste zu übersehen. Leo und Milly wollten bis zum Zubettgehen beschäftigt sein, und nachher mußte Sabine sie in großer Hast auskleiden und waschen.

Heute hatte die Mutter ihren Trioabend. Da wurde schon um sieben Uhr gegessen, weil um Acht der Organist Kolvater und der Musikdirektor Turibius kamen. In der üblichen Spielpause hatte Sabine dann belegte Brötchen und Wein herumzureichen; diese Dinge wollten auch erst vorbereitet sein. Es stellte sich in diesen ersten Stunden nach Lisbeths Abgang schon heraus, wieviel Arbeit das flinke Mädchen der Köchin Guste abgenommen hatte, und sowohl Guste als ihre Herrin wurden allmählich doch etwas bedrückt.

Leider konnte aber die Oberamtmännin ihre Hilfe nicht anbieten; sie mußte noch notwendig ihren Klavierpart zu dem Brahms’schen H-dur-Trio üben, der viel zu schwer für ihr Können war. Laut drang durch die kleine Wohnung das seltsam anzuhörende Spiel der einen Stimme. Es war ein Gestammel. Das Fehlen der Cello- und der Violinstimme erzeugte den Eindruck einer peinigenden Unfertigkeit, die auch, abgesehen von dem mangelhaften Spiel, an und für sich den Zuhörer nervös machen konnte. Bald setzte ein melodisches Thema ein und schien plötzlich abzubrechen, dann folgten viele Takte mit unverständlichen Begleitfiguren. Dazu zählte die Spielerin laut und immer lauter.

Der Oberamtmann hörte nie hin. Er war an das Geräusch gewöhnt und las seelenruhig sein Kreisblatt dabei. Aber Sabine glaubte jedesmal, daß sie davon verrückt werden würde.

Die Mutter beklagte sich oft, daß die Tochter gar nicht musikalisch sei. Sabine widersprach nicht. Sie gönnte der Mutter von Herzen diese eifrige Freude am Triospiel und erinnerte sich, daß früher, auf Heinsdorf, die Mutter stets gejammert habe, keine andere Gelegenheit zum Musizieren zu finden, als das vierhändige Spiel mit dem Dorfschullehrer Küps, des Mühlauer Kolonialwarenhändlers Küps Bruder. Jetzt hatte Frau Oberamtmann die Gelegenheit und nutzte sie wöchentlich aus. Sabine mochte nicht erzählen, wie viele herrliche Konzerte sie in Berlin gehört hatte; sie vermied es sorgsam, Künstlernamen zu nennen, die bei ihr Erinnerungen an köstliche musikalische Offenbarungen hervorriefen. Alles würde wie eine abfällige Kritik des Organisten Kolvater und des Musikdirektors Turibius aufgefaßt worden sein.

Und daß Kolvater ebensogut wie Joachim Geige spiele und daß Turibius einer der hervorragendsten Pianisten und Musiker der Gegenwart war, stand für Frau Oberamtmann Deuben wie für ganz Mühlau fest. Beide Männer waren nur durch Familienverhältnisse und Chicane in Mühlau hängen geblieben, während sie in Berlin einen ersten Rang hätten einnehmen können!

Nach dem hastigen Abendbrot war Sabine noch beschäftigt, kleine belegte Brötchen in der Küche zu bereiten, als schon die beiden Herren vorn in das bereits erleuchtete Wohnzimmer traten.

Frau Oberamtmann entschuldigte sich gleich, daß sie keine rechte Zeit gehabt habe, ihren Part ordentlich durchzuüben. Kolvater und Turibius waren in derselben Lage gewesen. Uebrigens tauschten sie diese Entschuldigungen jedesmal aus.

Bevor man sich zum Spiel setzte, pflegte man auch noch die Neuigkeiten der letzten Woche flüchtig zu besprechen, woran Deuben selbst interessierten Anteil nahm.

Im Lichtkreis der Lampe saß man um den Tisch, die Lichter am Klavier und den Notenpulten zündete die Oberamtmännin erst im Augenblicke des Spielbeginnes an.

So im Dämmerschein, im weit zurückgeschobenen Lehnsessel hatte Musikdirektor Turibius wirklich das Aeußere eines Künstlers. Er ließ sich, ohne zu ahnen, daß er damit zwanzig Jahre hinter der Mode für Musiker zurückblieb, das Haar lang wachsen; es fiel in lockiger Biegung hinten bis über den Stehkragen, um den er natürlich einen flatternden Lavallièreschlips geschlungen hatte.

Sein Gesicht war bartlos, da es aber von vielen Fältchen durchfurcht war, so hatte dieser lockige Kopf etwas von verkümmerter, karikierter Jünglingshaftigkeit. Auf der Straße trug Turibius stets einen Kragenmantel. Alle Mühlauer Damen fanden seit 25 Jahren, daß er genial aussähe. Kolvater hatte weniger Pose und wirkte anspruchsloser. Ein gebücktes, bärtiges Männchen, sah er überarbeitet und bescheiden aus, besonders wenn er, der seine acht Kinder mit Orgelspiel, Violinstunden, Schreib- und Leseunterricht an der Elementarschule durchbringen mußte, bei den „reichen“ Deubens zu Gast war.

Sowohl Turibius als auch Kolvater schienen etwas befangen. Das Gespräch floß spärlich. Deuben und seine Frau mußten heute alles abfragen: ob der alte Meinert noch wieder werde; ob bei Landrats heute abend Zeichen besonderer Unruhe im Hause bemerkbar für den Nachbar Turibius gewesen, denn endlich müsse der erwartete Erbprinz sich doch einstellen; ob Frau Organist Kolvater auf dem Damenkaffee bei Frau Rechnungsrat Müller etwas Neues gehört; ob der Leutnant von Pfordt gestern wirklich im Hotel zum Kronprinzen mit Herrn Schrötter-Melanienhof eine tolle Wette um zwanzig Flaschen Sekt eingegangen sei. Kolvater und Turibius waren karg in ihren Antworten und wechselten oft bedeutungsvolle Blicke. Endlich mußte Deuben bemerken, daß sie etwas Besonderes hatten, womit sie zögerten, herauszurücken. Er fragte gradezu nach, in seiner derb humoristischen Art, von welcher er glaubte, daß er sich mit ihr alles herausnehmen dürfe.

„Na ja denn,“ sprach Turibius, einen letzten Blick des Verständnisses mit seinem Freunde Kolvater wechselnd, „es muß gesagt sein. Kolvaters Frau hat es bei Rechnungsrats auf dem Kaffee für ganz gewiß gehört, daß der Leutnant von Körlegg, der Ihren Schwiegersohn im Duell erschoß, nach Mühlau versetzt ist und nächster Tage eintrifft. Lehben ist Hauptmann geworden und kommt nach Metz.“

Deuben und seine Frau saßen wie versteinert. Die beiden Musiker wagten kein weiteres Wort. Endlich rief die Oberamtmännin: „Eine solche unerhörte Taktlosigkeit!“

„Die is unfreiwillig, Alte!“ beschwichtigte der Oberamtmann, „das kannst du dir doch an deinen fünf Fingern abzählen.“

„Gewiß – Gott – ja,“ gab sie zu. „Aber es ist doch ein schrecklicher Gedanke, daß unsere Tochter dem Manne begegnen könnte.“

„Was wollt’ es nicht! Aber sieh mal, Alte – wie oft haben wir uns nicht geärgert, daß Sabine sich um gar nichts kümmerte, was in Mühlau vorging. Sie guckt nich mal raus, wenn die Soldaten mit Musik vorbeikommen, wenn sie nicht gerad’ Milly und Leo ans Fenster heben muß. Ich glaube, sie weiß nicht mal, daß es Hauptmann von Hallendorf ist, der drüben bei Crolpa wohnt, und kennt überhaupt keinen der Herren mit Namen. Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0300.jpg&oldid=- (Version vom 5.9.2020)