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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Freude macht … doppelte Freude, weil sie gerade heute kam! Jetzt, während Sie bei mir sind! Denn diese Nachricht, Fräulein …“ er war so bewegt, daß er kaum zu sprechen vermochte, „das ist eine Freude für Sie! Eine große, große Freude! Hören Sie!“ In heißem Eifer schob er alles beiseite, was vor ihm auf dem Tische war, und faßte Lolos Hand. „Hören Sie nur! Eine Nachricht über Ihren Vater! Aber bevor ich lese … ich muß Ihnen doch sagen, wie ich zu dieser Nachricht komme! Damals, als ich Sie kennenlernte … an jenem Morgen, draußen beim Sebensee, unter seinem klingenden Baum und bei seinen Blumen … damals sprachen wir doch so viel von Ihrem Vater. Das alles weckte in mir solche Teilnahme für sein Schicksal und seine Kunst, daß ich noch mehr von ihm hören wollte … und als ich heimkam, depeschierte ich an einen Freund in Wien, mir alles mitzuteilen, was er über Emmerich Petri erfahren könnte. Und das ist die Antwort!“

Zitternd saß sie vor ihm, mit den Augen in banger Spannung an seinen Lippen hängend.

Ohne ihre Hand zu lassen, begann er zu lesen: „‚Mein lieber Heinz ...‘“

„Heinz? Das ist Ihr Name?“

„Ja! … ‚Mein lieber Heinz! Der Kunstaugur, dem ich die Nachforschungen nach Deinem Emmerich Petri übertrug, war soeben bei mir. Da Deine Anfrage etwas so merkwürdig Dringendes hatte, nehme ich in meiner Freundschaft für Dich einen Anlauf zur Verschwendung und depeschiere Dir ein ganzes Kapitel moderner Kunstgeschichte. Dein Petri stammt aus einer Algäuer Bauernfamilie, verlor als Knabe die Eltern und bekam zum Vormund einen Pfarrer, der den Erlös des kleinen Bauerngutes auf den Acker der Kirche säen wollte und den begabten Jungen in eine geistliche Präparandenschule steckte. Mit 19 Jahren, kurz vor der Ausweihung, lief Petri der frommen Gesellschaft davon. Er wollte Künstler werden und besuchte zwei Jahre die Münchener Akademie. Seine Professoren sprachen ihm alles Talent ab und meinten, er hätte klüger gethan, Kaplan zu werden. Mit zähem Ehrgeiz stellte er sich auf freie Füße, ging seine eigenen Wege, arbeitete mit eisernem Fleiß und begann ein paar Jahre später im Münchener Kunstverein auszustellen, ganz merkwürdige Bilder, seltsam in Technik und Farbe, befremdend durch ihre Gedanken, kindlich und kühn zugleich, mit einer Vorliebe für fabulöse und didaktische Stoffe, in denen sich Hellenismus und freidenkendes Christentum eigenartig verschmolzen. Man verstand ihn nicht, schüttelte den Kopf und lachte. Ueber ein Jahrzehnt lang kämpfte der Mann erbittert um Anerkennung, ohne sie zu finden. Schließlich scheint ihn die Geduld verlassen zu haben. Vor etwa vierzehn Jahren wanderte er mit seiner Familie aus München davon, niemand weiß wohin. An seiner Kunst verzweifelnd, scheint er sie aufgegeben zu haben, denn man hat seit jener Zeit kein Bild mehr von ihm gesehen. Und das ist schade, denn seine Zeit wäre jetzt gekommen!‘“

Ettingen unterbrach sich, drückte Lolos Hand und stammelte in Erregung: „Seine Zeit! Hören Sie, Lo’ … hören Sie!“

Ein Lächeln irrte um ihren Mund; sie konnte nicht sprechen und nickte nur.

Mit fliegender Stimme las er weiter: „‚Seine Zeit wäre jetzt gekommen! Das ganze Unglück dieses Mannes war, daß er um zwanzig Jahre zu früh geboren wurde, und daß er mit den Anfängen seiner eigenartigen Kunst in eine Zeit der ausgetretenen Geleise kam. Aber diese Zeit hat sich geändert, gründlich, und heute verlangt man von der Kunst vor allem Persönlichkeit. Da kommt nun gerade jener zur stärksten Geltung, der mit ernstem Schaffen seine eigenen Wege geht und sich vom Gesicht der Durchschnittsmacher unterscheidet. So hat sich das Verständnis der ganzen Welt für Böcklin erschlossen, und der Meistertitel wird vor Namen gesetzt, zu denen vor einem Jahrzehnt noch alle Welt den Kopf schüttelte. Einer von diesen spät Erkannten ist Hans Thoma, der auch die Spießrutengasse des Münchener Kunstvereins kennenlernte, und den sie heute mit Ehrsucht den ‚tiefen Träumer‘ nennen. Vor zwei Jahren, in einer kritischen Beleuchtung Thomas, erinnerte sich zum erstenmal ein Münchener Kritikus an einen ‚Vorläufer des Meisters‘ – an Emmerich Petri. Immer häufiger wurde in der letzten Zeit dieser Name genannt. Von Kunsthändlern wurde das eine und andere seiner Werke ausgegraben und wanderte von Stadt zu Stadt. Im vorigen Sommer erfuhr man, daß ein Frankfurter Mäcen, dessen Spezialität das Sammeln künstlerischer Originalitäten ist, im Besitze einer aus 27 Bildern bestehenden Kollektion des neuerkannten Meisters wäre, und im Herbst, Ende September, wurden diese Bilder zu einer ‚Separatausstellung von Werken Emmerich Petris‘ nach Berlin gebracht, um die ganze Berliner Kunstwelt in Aufruhr und Begeisterung zu versetzen.‘“ Ettingen vermochte nicht weiter zu lesen.

Regungslos, wie versteinert saß das Mädchen. Nur in ihren Augen war Leben, und mit tonloser Stimme flüsterte sie vor sich hin: „Im Herbst … Ende September …“

Um diese gleiche Zeit war jener Wolkenbruch in der Leutasch niedergegangen, zwei Tage und Nächte hatte Emmerich Petri gearbeitet „wie ein Holzknecht“ und hatte die Rettung von ein paar armseligen Hütten mit seinem Leben bezahlt.

„Im Herbst! Ende September!“

Ettingen empfand die Tragik dieses Wortes, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt, so daß er mit Gewalt seine Stimme zwingen mußte, um lesen zu können.

„‚Diese Ausstellung war ein Erfolg, so einstimmig, wie er noch selten einem Künstler zu teil wurde. Dem Frankfurter Sammler, der diese Bilder vor fünfzehn und zwanzig Jahren um eine Bagatelle erworben hatte, wurden hohe Summen geboten, aber der Mann war stolz auf seinen Besitz und verkaufte nicht ein einziges Bild. Alle Journale brachten ausführliche Besprechungen des Meisters, man bezeichnete ihn als eine an Gedankentiefe mit Böcklin verwandte Natur, als dessen milderen Bruder – Böcklin wäre die strenge Kraft, Petri die träumende Liebe. Und überall die Frage: Wo ist dieser Mann? Wer weiß von ihm? Wo lebt er?‘“ – Erschrocken legte Ettingen die Blätter nieder. „Fräulein!“

Blaß und an allen Gliedern zitternd hatte sich Lo’ erhoben, als wär’ es über ihre Kraft gegangen, dieses letzte Wort zu hören. Ein Sturz von Thränen brach ihr aus den Augen, mit einem Schluchzen, das ihren Körper schüttelte wie Frost.

„Fräulein! Ach du allmächtiger Gott! Ich bitte Sie, liebes Fräulein …“ Ettingen trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schultern wie ein Bruder, der die Schwester beruhigen will. Sie schien in diesem Sturm von Erregung nichts anderes zu denken als nur das eine: er fühlt mit mir, er will mich trösten – und da überließ sie sich willenlos seinem Arm, und weinend barg sie das Gesicht an seiner Brust.

Aus dem anstoßenden Zimmer klang mit erschrockenem Ton die Stimme des Knaben: „Lo’! Ach Gott, Lo’! Was hast du? Warum weinst du denn? … Aber ich bitt’ dich, so sag mir doch ... Lo’! Was hast du denn?“

„Sorg’ dich nicht, Bubi!“ rief Ettingen. „Was deine Schwester weinen macht … das ist Freude!“ Er streichelte mit scheuer Hand ihr schimmerndes Haar, richtete sie auf und sagte leis: „Ja, Lo’ … das muß Freude sein! Freude über die Anerkennung, die Ihr Vater gefunden. Aber ich verstehe Ihr schönes, kindliches Gefühl so gut … Ihre Freude mischt sich in dieser Stunde mit dem schmerzvollen Gedanken, daß Ihr Vater den Lohn seines Schaffens nicht mehr erleben konnte, daß er sterben mußte, bevor ihm die Welt den verdienten Lorbeer reichte. Aber denken Sie doch, wie er starb! Das muß Ihrem Herzen sagen, daß er die Augen nicht geschlossen hat, ohne tief in seinem Innersten zu glauben: ich habe nicht umsonst gewirkt, ich kann nicht sterben, ich werde weiterleben! Sonst hätte er die Welt nicht so verlassen können, mit dieser Ruhe, mit diesem Lächeln, mit diesem letzten Wort: ‚Meine Blumen!‘ Das galt nicht nur den Blumen da draußen am See … dieses Wort hat allem gegolten, was aus der Tiefe seiner Seele heraufblühte und reines, köstliches Leben wurde. Das wird seinen Namen tragen, das wird dauern als eine Freude für die Menschen! Ihr Vater ist nicht gestorben: er lebt! … Nein, Lo’, Sie dürfen nicht weinen! Sie müssen sich aufrichten und stolz sein auf Ihren Vater, stolz auf den Namen, den er Ihnen gab und dessen Sie würdig sind … dieser Name ist Adel, wie ich besseren nicht kenne!“

Aus Thränen blickte sie zu ihm auf. Wie schön sie war – mit diesen flammenden Wangen, im Schmuck dieser leuchtenden Perlen, in diesem Lächeln, mit dem sie den ersten erschütternden Schmerz überwand und schon die Versöhnung fühlte, den Stolz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0284.jpg&oldid=- (Version vom 9.8.2020)