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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

hätte. Jeder muß sich nach seiner Ärt ausleben. Ich beschloß die Reise, um zu gesunden – wenn es krank ist, was ich empfinde. Aber seinem König den Dienst aufsagen – nein, das thut ein Körlegg nicht, solange er sich der Ehre wert fühlt, zu dienen.“

Er verneigte sich. „Leben Sie wohl, gnädige Frau,“ sprach er, „Gott gebe Ihrer Zukunft Licht und Glück!“

Sie neigte stumm das Haupt.

„Sie gestatten mir, in Sehweite zu bleiben, bis ich die Beruhigung habe, daß Sie Ihre Begleiter wiederfanden?“

Zum zweiten Male neigte sie das Haupt und schwieg.

Er trat zurück, ging einige Schritte seitwärts und lehnte sich gegen den Thorpfeiler.

Sie blieb mitten auf dem Platz innerhalb der Einfahrt stehen, in stolzer ruhiger Haltung.

Sie fühlten es beide: niemand durfte sie hier im Gespräch zusammen finden. Jeder Zeuge und jeder Mitwisser ihrer Begegnung hätte dieser die ernste Weihe geraubt.

An dem Rand eines Grabes – und welch eines für sie beide bedeutungsvollen Grabes – waren sie sich begegnet. Das war eine Schicksalsfügung gewesen. Ein wunderbarer, inhaltsreicher Augenblick ihres Lebens.

Ihn festzuhalten, durften sie nicht die Hand ausstrecken.

Achim fühlte, daß es schicklicher gewesen wäre, sich weiter zurückzuziehen. Aber er vermochte nicht, sich zu besiegen. Mit klopfendem Herzen stand er und sah zu dem schönen Weib hinüber.

Solches Weib hatte der Tote besessen! Und war doch ein unfriedlicher, kleinlicher Mensch geblieben oder geworden? Anstatt in unaussprechlichem Glück über alle Fatalitäten seines Berufslebens einfach zu lachen.

Diese wundervollen Augen hatten ihm geleuchtet. Ihm vielleicht diese Leidenschaft geflammt, die das ganze Wesen des Weibes umwitterte, wie süßer, schwerer Duft eine blühende Rose. Und er war dennoch ein Unzufriedener und Verbitterter gewesen?! Armseliger Mann! –

Sabine von Zeuthern fühlte, daß seine Blicke unausgesetzt an ihr hingen. Sie atmete schneller. Ihr Herz klopfte.

Die sonderbare Lage, in der sie sich befanden, diese stumme Nähe, dies stete Anschauen – alles machte sie erregt. Und gegen ihren Vorsatz, einem innern Zwang folgend, wandte sie langsam das Haupt und sah nach Achim hinüber.

Ihre Blicke trafen sich.

Er errötete. Er glaubte sich gestraft und wollte sich etwas mehr entfernen. Aber er blieb – in neuer Erregung. –

Zwei Kinder liefen an den Händen eines jungen Mädchens heran und hielten sogleich erschreckt inne, als sie ihrer Mutter ansichtig wurden, die ihnen zuwinkte, still zu sein.

„St – –,“ machte Sabine, „hier darf man nicht laut sein! Aber um Gotteswillen, Susanne, wo seid ihr gewesen?“

„Es kamen zwei Männer mit einem Bären und einem Affen quer über die Straße,“ sagte das junge Mädchen, „Leo und Milly wollten sie durchaus nahebei sehen. Da sind wir ein Stückchen die Friedensstraße mitgezogen. Leo wollte auch wissen, wohin die Männer mit den Tieren gingen.“

„Nach Weißensee, Mammi,“ rief der kleine Junge, „als er sammelte, gab Susanne ihm Geld, und da sagte er es. Laß uns auch nach Weißensee fahren!“

„Milly auch mit Eißensee,“ plapperte das kleine Mädchen.

„Nein, nein, wir nehmen einen Wagen und fahren heim,“ sagte Sabine. „Aber Milly, dein Hut ist ja ganz schief!“

Zärtlich kniete sie nieder, um der Kleinen den Hut frisch aufzusetzen. Es war reizend anzusehen, wie die vielen weißen Stofffalten rund um das dunkellockige Köpfchen standen, wie unter dem festen kleinen Kinn eine große, wohlzurechtgezupfte Schleife zustande kam.

Achim hatte ein seltsames Gefühl: er bildete sich ein, sie zögerte hier auf dem Platze vor seinen Augen, damit ihre Kinder von ihm genau betrachtet werden könnten, damit er ihr Mutterglück sähe. Als wolle sie zeigen, schien es ihm, wie reich sie noch sei, wie viel ihr das Schicksal noch gelassen habe.

Er hätte zu ihr hinstürzen mögen, um ihr dafür in heißer Dankbarkeit den Kleidersaum zu küssen.

Ja, das war ein stolzes Mutterglück: zwei solche Kinder zu haben! Der Knabe konnte fünf oder sechs Jahre alt sein, sein Gesicht war trotzig und dunkel. Sein Wesen rasch und selbstbewußt; das kleine Mädchen zählte höchstens drei und sah aus großen, mächtigen Augen zaghaft und neugierig um sich.

Für das junge Mädchen hatte Achim keinen Blick. Sabine erhob sich.

„Nun kommt,“ sagte sie und nahm die Kleine an der Hand.

„Ach, laß uns erst noch nach Papa gehen,“ flehte der Junge, „vielleicht steht er wieder auf.“

„Papa schläft für immer,“ sprach Sabine sanft, und es schien Achim, als sähe sie zu ihm hinüber.

„Aber Frau Schulze sagt, die Toten stehen wieder auf,“ behauptete der Knabe und versuchte seine Mutter an der Hand fortzuziehen.

„Einst …. am Jüngsten Tag,“ antwortete statt der Mutter das junge Mädchen.

„Wann ist das?“

„Das lernst du alles später.“

„Ich will zu Haus gleich nachsehen, Frau Schulze hat noch einen alten Kalender von vorigem Jahr, darin kann man alle Tage finden. Mammis Geburtstag und meinen und Weihnacht und alles,“ erzählte der Knabe.

An der Hand des jungen Mädchens schritt er plaudernd voran.

Gerade kam eine trauernde Familie, mehrere Personen, Kränze tragend, mit verschleierten und verweinten Gesichtern.

Sabine sah sich genötigt, mit ihrem Töchterchen etwas seitwärts zu treten, um den Trauernden ehrfurchtsvoll Platz zu machen. So stand sie noch einmal Aug’ in Auge mit Achim. Sie sah ihn fest an.

Er war sehr bleich. Sein Blick senkte sich tief und gramvoll in den ihren.

Sie versuchte ein gütiges Lächeln zu erzwingen. Aber es ging nur ein schmerzliches Zucken um ihren Mund.

Dann war auch das vorüber.

Achim stand im Treiben der Straße, umwirrt vom Gewühl aller Töne, und sah fern ein überschlankes, schwarzgekleidetes Weib mit wallendem Schleier entschwinden. Von den beiden Kindern sah er nichts mehr.

Ihre Figürchen waren versteckt hinter der veränderlichen, beweglichen Wand, welche die straßauf- und straßabwärts Gehenden bildeten.

Nun war all sein dämonisches Begehren gestillt. Er hatte das Grab des Toten besucht und dort innere Freiheit gefunden. Er hatte das Weib des Toten gesehen und Vergebung erflehen können. Er hatte auch die Kinder gesehen und das thöricht tiefe Geplauder des Kleinen vernommen, um es nie, nie wieder zu vergessen.

Er stand da als ein freier Mann, der in Frieden seine Straße ziehen konnte, denn kein Haß folgte ihm, und er hatte mit dem Vergangenen abgerechnet. Morgen schon legte sich der Ocean zwischen ihn und die Vergangenheit.

Er seufzte auf. Ihm war, als habe er diese ganze Reise nur beschlossen und vorbereitet, um vor dieser wunderschönen Frau zu fliehen.

Er floh vor ihr wie vor einem Schicksal.

Er fühlte wohl, er würde nicht, wie er gefürchtet hatte, das Bild eines Toten und eines Grabes mit hinwegnehmen, sondern das einer Lebenden.

Der Inhalt seiner Tage würde sein, über das nachzugrübeln, was ihre dunklen, rätselhaften Augen ihm gesagt hatten.

Ihr Blick beschwerte sein Herz.

Und er schritt in die sonnendurchbrütete, staubige, laute Stadt zurück, mitten im Strom und Gegenstrom der Menschen ein stillträumender Mann.

Sein Ausdruck war herbe, seine Gedanken resigniert. So schritt er dahin, nicht wie einer, der frohen Mutes einen neuen Lebensabschnitt beginnt, sondern wie einer, der alles verloren hat, auch das Beste, was der Mensch besitzt: die Hoffnung und die Neugier auf die Zukunft.

Er glaubte in dieser Stunde, daß er nicht mehr die Lust habe, mit dem Leben zu kämpfen, sondern daß er sich vom Leben treiben lassen werde, wohin es wolle.

(Fortsetzung folgt.)


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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0271.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)