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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

und kann mir nicht sagen, nach welcher Richtung sie sich entfernt haben.“

„Wenn Gnädigste mir jene Personen beschreiben wollten ....“

„Sie sind sehr gütig. Aber es wäre thöricht, zu suchen. Während man die Straße hinauf sucht, kommt die kleine Gesellschaft vielleicht die Straße herab. Ich werde warten müssen. Meine Cousine – die junge Dame – ist ganz fremd hier in der Gegend ....“

Sie schwieg. Achims Ohr hatte sich an ihrem Organ entzückt. Es war so viel Klang darin. Auch hatte sie eine besondere und sichere Art zu sprechen.

„Darf ich mit Ihnen warten?“ fragte er und sah sie eindringlich an.

„Aber bitte …. Sie derangieren sich meinetwegen,“ sagte sie zögernd. „Man steht hier mitten im Straßenverkehr,“ setzte sie hinzu und trat unwillkürlich vom Bürgersteig zurück, ein wenig hinein in die Kirchhofspforte.

„Ich bin glücklich, wenn Sie mir gestatten, mit zu warten,“ sprach er, neben ihr bleibend.

Sie errötete langsam, schien sich zu besinnen, mit sich zu kämpfen und sagte endlich, ihn frei und mit bezwingender Liebenswürdigkeit ansehend:

„Sie verzeihen mein offenes Geständnis: ich habe wirklich und wahrhaftig Ihren Namen vergessen. Ich kann Sie absolut nicht unterbringen. Und doch haben wir uns natürlich schon gesehen. Ihr Gesicht kenne ich genau. Nur der Name! Ich will es nur gestehen. Nicht wahr – das kommt vor? Man wird einander vorgestellt, hört ein Gemurmel und weiß nachher doch nicht, wer der andere ist. Schon vorhin, am Grabe, zerbrach ich mir den Kopf, wer Sie seien.“

„Meinen Namen vergessen …“ wiederholte Achim zögernd.

Kein Zweifel, sie glaubte, man habe sich schon irgendwo gesehen, sei irgendwann einmal einander vorgestellt worden. Deshalb nahm sie seine Anrede so einfach hin!

Wenn er ihr nun sagte, daß sie sich täusche, daß sie einander noch nie gesehen hätten, daß er ein Angesicht wie das ihre, ein paar Augen wie die ihren nie vergessen haben würde, daß er sich an sie geheftet haben würde wie ein eifriger Verfolger, nur um das Glück anzustreben, sie oft zu sehen. Nein, wenn er sagte: Sie täuschen sich, sah sie ohne Zweifel in seiner Anrede nur noch eine kühne Zudringlichkeit.

„Das,“ sprach sie lebhaft, „das nehmen Sie übel? Oh, ich sehe Ihnen es an!“

„Aber ganz gewiß nicht, meine Gnädige! Wie sollte Sie auch mein Name interessieren. Er ist unbedeutend genug,“ brachte er heraus.

„Und dennoch müssen Sie dem Toten sehr freundschaftlich nahegestanden haben, weil Sie einen Kranz auf sein Grab legten. Ich sah es wohl, als ich herankam.“

Er erbleichte. Ihm war, als begönnen seine Knie zu beben.

„Herrn von Zeuthern – – freundschaftlich – –“ stammelte er.

„Nun ja. Und deshalb müßte ich Sie doch kennen. Er war so vereinsamt. Nur zwei oder drei alte Studienfreunde sprachen manchmal noch vor. Ich komme mir ganz pietätlos vor, daß ich jemand nicht wiedererkenne, der doch dem Toten nahegestanden haben muß. Schon vorhin kämpfte ich mit mir, ob ich Sie anreden und Ihnen danken sollte. Also sein Andenken wird doch noch in einem Freundesherzen treu gepflegt, sagte ich mir. Im Namen seiner Kinder danke ich Ihnen!“

Sie streckte ihm die Hand hin. Ihre Stimme hatte nicht gebebt und in ihren Augen waren keine Thränen. Sie sprach herzlich und liebenswürdig, aber nicht ergriffen.

„Sie sind?!“ rief Achim.

„Sabine von Zeuthern. Ich dachte, Sie kennen mich,“ sprach sie erstaunt.

Er trat zurück. Sein Gesicht war fahl. Warum hatte er es noch hören wollen! Seit zwei Minuten wußte er’s ja schon!

„Ich – ich – darf diesen Dank nicht nehmen – diese Hand nicht fassen,“ sagte er mit kaum hörbarer Stimme.

Auch Sabine von Zeuthern erbleichte. Sie hatte begriffen: solche Worte konnte nur ein einziger Mann auf der ganzen Welt zu ihr sprechen.

Aber mit großen, festen Blicken sah sie unverwandt in sein Angesicht.

Der Ausdruck dieser dunklen, lodernden Augen erschien ihm unergründlich.

Haß stand nicht darin, das fühlte er wohl. Prüfend sah sie ihn an – staunend – so durchdringend, als wollte sie sich seine Züge für immer einprägen.

Es war, als sagten diese Augen: Also du bist es – du?! Du, der mir den Gatten erschoß – du, in dem sich mein Schicksal verkörpert!

Und ihr stolzer, üppiger Mund, dessen Lippen im weißen Gesicht so auffallend rot erschienen, blieb fest verschlossen.

„Gnädige Frau,“ sprach er, mühsam nach Worten suchend, die ihr wohlzuthun vermöchten, und doch fast unfähig, irgend etwas Zusammenhängendes zu denken, „gnädige Frau – seit jener unseligen Stunde, wo Ihr Gatte – … wo ich …. ja seitdem habe ich nur den einen Wunsch gehabt, einmal vor Ihnen stehen zu dürfen, um zu bitten: Vergeben Sie einem, der sehr durch das Ereignis gelitten hat! Mehr als er hier sagen kann. Nun hat der Zufall mir gewährt, was ich absichtsvoll nie herbeizuführen gewagt hätte! Ich bitte Sie, wenn Sie das Uebermenschliche vermögen: denken Sie meiner ohne Haß!“

Sie schwieg noch und sah ihn immer nur an. Er wartete. Ihm schienen Minuten zu verrinnen. Und doch war es nur ein paar Herzschläge lang. Er ertrug es nicht.

„Ich erwarte mein Urteil,“ sprach er.

Sie seufzte, aus langen, schweren Gedanken sich losreißend.

„Wenn Sie denn meiner Vergebung zu bedürfen meinen: ich zürne nicht – ich hasse nicht,“ sagte sie. „Mein Schwager hat mir genau die Vorgeschichte des Duells erzählt. Ich weiß, daß nicht Sie es waren, der es provozierte. Und wenn der Ausgang Ihr Gemüt beschwert, so beklage ich Sie! Vielleicht thut es Ihnen wohl, daß ich Ihnen das sage. Vielleicht habe ich sogar die Pflicht, zu sagen: vergeben Sie dem Toten.“

Unter diesen Worten änderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes und ihrer Stimme. Ihre Nasenflügel bebten, ihre Augen flammten. Die Lippen verzogen sich in Bitterkeit, und ihre Stimme klang verschleiert.

Er aber sah plötzlich, wie in einer Vision, neben dieser schönen, kraftvollen und leidenden Frau das Keifergesicht des gehässigen Mannes, den er erschossen hatte. Ihm war, als habe ihm jemand laut und deutlich gesagt: der Mann hat dieses Weib sehr elend gemacht und du hast sie nicht beraubt, sondern befreit.

„Nein, nein,“ dachte er ängstlich. „Dergleichen darf ich nicht glauben – das ist ein feiger Wunsch von mir – um mich leichter fühlen zu können …“

„Ich danke Ihnen, gnädige Frau,“ sprach er voll Haltung. „Wenn etwas von meiner Zukunft die düsteren Schatten nehmen kann, so sind es Ihre Worte. Leichter und freier ist mir nun ums Herz und ich kann als ein Entlasteter über das Meer ziehen.“

Er stand mit dem Hut in der Hand, um sich zu verabschieden.

„Sie gehen fort? Nach Amerika? In die Kolonien? Deshalb?“ fragte sie hastig und ungläubig.

„Ja und nein, gnädige Frau,“ antwortete er, „ich gehe für mehrere Monate in die Vereinigten Staaten; ich habe einen Jugendfreund drüben. Aber ich komme zurück. Nicht in mein altes Regiment; ich lasse mich versetzen. Meine Freunde finden mich etwas schwerblütig, weil ich mich mit dem Ereignis so abplage. Aber ich glaube, sie sagen es nur. Ich glaube nicht, daß einer unter ihnen ist, der es in der That leicht nähme, einen Mann erschossen zu haben, wenn auch auf dem für uns undiskutierbaren und ehrenrechtlich notwendigen Felde des Zweikampfes. Ein Menschenleben ist eine große Sache. Und obenein das Leben eines Mannes, der Weib und Kinder hatte! O, gnädige Frau – der Gedanke an diese Kinder … der hat mich verfolgt! – Aber immerhin ist es ja möglich, daß ein Mann von anderm Stoff sich etwas schneller innerlich wieder zurechtgefunden

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0270.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)