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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Zwischen den Epheumatten, aus denen graue, weiße und dunkle Tafeln und Kreuze ragten, gingen auf hellen Wegen wenige stille Menschen mit ernsten Mienen. Zwischen dem Schwarzgrün des Epheus leuchteten bunte Blumen wie lustige Farbenflecken auf. Die Trauereschen und -weiden hatten an hängenden, dünnen Zweigen Grün. Still und hoch, cypressenähnlich, standen die verschiedenen Arten Taxusbäume.

In lachendem Blau prahlte droben der Himmel.

Achim hatte jetzt mehr eine ernste, gehobene Frühlingsstimmung in sich als Schauer vor dem Grauen des Todes. Ihm war mit einemmal freier, ja gesünder zu Mut geworden.

Wie so ein bißchen Natur einem gleich thut, dachte er dankbar, selbst in diesem frisierten Zustand – aber Grün bleibt Grün und Blumen Blumen. Und der Himmel da oben, das ist auch morgen mein Himmel auf dem ewigen Meere!

Das gesuchte Grab fand er gleich. Auf dem Weg dahin begegneten ihm noch zweimal schwarz gekleidete Damen. Aber der erste, thörichte Schreck hatte ihn wohl gefeit. Er beachtete sie nicht.

Steineck hatte recht gehabt: das war eine ganze Zeuthern-Genealogie auf der großen schwarzen Platte, die, in blanken Lichtreflexen schimmernd, wuchtig in einem dicken Kranz von rankendem Epheu lag.

Achim überflog die Namen. Leopold von Zeuthern und Marie von Zeuthern, geborene Osterroth – das mußten die Eltern sein. Darunter folgte: Leopold von Zeuthern, Regierungsassessor a. D.

Also Leopold hieß er, dachte Achim. Dann fiel ihm ein, daß er das ja schon in der Todesanzeige gelesen hatte und daß der junge Zeuthern den Bruder „Leo“ gerufen habe.

Seltsamer Einfall! – den Regierungsassessor a. D. auf den Grabstein einmeißeln zu lassen, dachte er weiter. Vielleicht hatte er das so bestimmt, um sein Querulantentum noch zu verewigen.

Ihm wurde immer leichter und besser, sein Sinn wurde frei. Alle Grübeleien der letzten Wochen schienen wie fortgeweht.

Mein Gott, dachte er, das ist ja ein ganz fremder Mensch, an dessen Grab ich hier stehe! Er und ich, wir gingen uns nichts an. Da war nichts Persönliches zwischen ihm und mir, kein Haß und keine Liebe. Ein Sachliches, ein Unterschied des Denkens und Fühlens rief mich zu seinem Richter auf. Zufällig mich! Es ist doch dasselbe, wie wenn man im Kriege einen Feind tötet. Ich darf dies Grab ehren – aber daß dieser Mann darin ruht, darf mich nicht beschweren.

Er neigte sich, um seinen Kranz niederzulegen. In allem Ernst andachtsvoller Stimmung war er fast glücklich. Ihm schien, als sei er nun allen „Gedankenballast“ los geworden.

Von der andern Seite kam eine schwarz gekleidete Dame und schritt zwischen den Gräbern, so daß ihr Kleidersaum vor den Epheuwällen nicht sichtbar ward. Achim achtete nicht auf sie, es war die vierte oder fünfte derartige Erscheinung, die seit den letzten fünf Minuten an ihm vorbeigegangen war.

Diese ging aber nicht vorbei; sie kam so geradeswegs auf Achim zu, daß er ihr entgegensah.

Die auffallende Schönheit der Frau machte ihn geradezu betroffen. Die Farben des Gesichtes erschienen durch den schwarzen Schleier, der, vom Hut zurückfallend, einen breiten dunklen Hintergrund gab, schimmernd weiß. Das dunkle Haar lag frei und lockig vor dem diademartigen Hütchen. Die Gestalt der Frau war über Mittelgröße und sehr schlank.

Sie blieb an dem Nachbargrab stehen. Dies trug überreichen und ganz frischen Schmuck, Kranz lastete da auf Kranz; vielleicht hatte man da erst gestern jemand zur Ruhe gebracht.

Aber wenn die schöne Frau gekommen war, dieses Grab zu besuchen, so erschien es doch seltsam, daß sie ihre Blicke nicht andachtsvoll darauf niedersenkte.

Sie stand vielmehr und sah erstaunt, ja mit unverhohlener Neugier zu Achim hinüber.

Der Raum zwischen ihnen, von zwei Ruhestätten ausgefüllt, war doch so gering, daß jeder ganz genau das Angesicht des andern erkennen konnte.

In atemlosem seligen Staunen starrte Achim in diese großen, dunklen Augen.

Sein Herz schlug schwer. Sekunden verrannen. Da machte die Frau eine Bewegung. Achim erschrak.

Die mächtige Angewohnheit zwang ihn zu einer ganz leeren Höflichkeit. Er lüftete den Hut, und ihm schien, als neigte die Dame leise das Haupt.

Er wandte sich um und ging. Er fühlte, daß er gehen müsse. Das war vielleicht eine trauernde Tochter, die das Grab von Vater oder Mutter zu besuchen gekommen war. Er durfte nicht die Taktlosigkeit begehen, fremden Gram zu belauschen.

Aber er verließ nicht den Kirchhof. Er schritt planlos um zwei, drei Vierecke der Anlagen, las da gedankenlos eine Inschrift, starrte dort, ohne wirklich zu sehen, ein Denkmal an.

Er wollte wissen, wer sie war. Dazu gab es ein so einfaches Mittel. Wenn sie gegangen war, wollte er an das reichgeschmückte Grab zurückkehren und sehen, ob es einen Namen trug. Wer da auch begraben war – sie mußte ihm eine allernächste Leidtragende sein, denn ihr Schleier, der hinter ihrem Haupte herabfloß, war von Krepp, ihr Kleid bis zu den Knieen mit Krepp besetzt.

Ganz flüchtig durchzuckte ihn der Gedanke, es könnte Frau von Zeuthern gewesen sein, die gezögert habe, sich dem Grab ihres Gatten vollends zu nähern, weil sie einen fremden Mann dort stehen sah.

Sie ist es unter keinen Umständen gewesen, bewies er sich. Sie trug keine Witwenschneppe und ihr unverhülltes Angesicht sah wohl ernst aus, aber nicht vergrämt!

Ihre Erscheinung paßte nicht zu dem Bild, das man sich von einer jungen Witwe am noch frischen Grabe ihres Gatten macht!

Als einige Minuten verstrichen waren, näherte er sich der Stelle, wo er sie gesehen hatte. Gerade sah er sie langsam fortgehen.

Eine sonderbare Aufregung ergriff ihn. Vielleicht konnte es ihm glücken, ihr zu folgen, in denselben Pferdebahnwagen zu steigen oder bis zum nächsten Droschkenstand hinter ihr her zu gehen. Er mußte erfahren, wer sie war, um jeden Preis. Er hatte noch niemals ein Frauenantlitz gesehen, das ihn so übermächtig angezogen hatte.

So hastig, als es der Ort irgend erlaubte, ging er an das Grab. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, auch diese Stätte trug, wie die Zeuthernsche, zu Häupten der Gruftplatte ein ragendes Denkzeichen. Hier war es eine abgebrochene Säule, auf deren Sockel deutlich zu lesen stand:

Ruhestätte der Familie Th. F. Müller.

Er war enttäuscht. Das war nichts. Daran konnte man sich nicht halten. Ich werde nachher den Kirchhofsaufseher suchen und fragen. Der Mann muß ja wissen, wo die Familie zu finden ist, der das Grab gehört, dachte er und eilte dem Ausgang zu.

Eine große Erregung ergriff ihn – dort vor der Pforte stand noch die schwarze Frauengestalt.

Wartete sie vielleicht auf ihn? Er gestand sich, daß auch sie ihn angesehen, wie man sonst einen fremden Mann nicht ansieht: durchdringend, forschend, lange.

Sie sah nach rechts, sie sah nach links. Eine bemerkbare Unruhe war in ihrer Haltung.

Dann schritt sie an die Blumenbude und fragte die Verkäuferin nach etwas.

„Mein Gott, wie fatal!“ hörte Achim sie rufen.

Er hatte hinter dem großen Thorpfeiler gestanden und glaubte, den Augenblick erfassen zu dürfen.

Den Hut lüftend, in ehrerbietiger Haltung, trat er näher und sprach: „Befinden Gnädigste sich in irgend einer Verlegenheit? Darf ich meine Dienste anbieten?“

Sie neigte dankend das Haupt, ohne jede Verlegenheit, durch die Anrede des fremden Mannes weder verwundert noch beleidigt. „In Verlegenheit allerdings, mein Herr,“ sagte sie, „allein helfen werden Sie mir nicht können. Eine junge Dame und zwei Kinder, die mit mir gekommen waren und mich hier zurückerwarten wollten, sind verschwunden. Auch die Blumenhändlerin hat drei solche Personen, wie ich sie ihr beschrieb, nicht beachtet

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0268.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)