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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

Schlacht, die auch er selbst fiebrisch in sich gespürt, mir aufdeckte, sah ich mit leuchtenden Augen erzählen, wie er einen französischen Lieutenant niedergeknallt habe, als derselbe eine Schmähung gegen unsern König ausstieß.

Ich habe dasselbe gethan mit einem deutschen Mann, aber meine Augen, glaube ich, leuchten nicht.

Der Mann war nicht mein Freund, ich kannte ihn kaum, was ich von ihm gesehen, war unsympathisch – und dennoch: ich möchte, er lebte! Ich möchte, meine Kugel hätte ihm einen Denkzettel geschrieben, aber keinen Totenschein. Ich schoß auch nicht, um zu töten. Aber mein ‚Ziel‘ bewegte sich, und anstatt in den Arm ging meine Kugel ins Herz.

Hiernach, lieber Robert, siehst Du, daß ein Weib nicht ins Spiel kam und daß ich nicht in romantisch verworrenen oder gar schuldvollen Verhältnissen stecke. Die Leidenschaften aller Art sind mir immer noch fern geblieben. Vielleicht bin ich nicht disponiert dafür. Wenn ich andere in Flammen sehe, bin ich voll Staunen und Mitleid. Voll Staunen, wenn das Feuer schnell erlischt und immer neu sich erzeugt, voll Mitleid, wenn es vernichtet. Möchte mich nie etwas ergreifen, mich nie etwas treffen, das mich aus meiner ruhigen Bahn reißt.

Also keine Romane! Aber eine klare, schöne, gute Ehe. Die Gelegenheit dazu finde ich hoffentlich drüben. Denn es hat viel Reiz für mich, mir eine Frau aus Verhältnissen zu holen, die von den unseren ganz verschieden sind. Ich denke mir, daß so eine Frau den Mann ganz besonders beschäftigen muß. Beschäftigt sein, ist schon beinahe Glück. Wenigstens erscheint mir das jetzt so, im Stillleben meiner Festungshaft.

Und wenn es Dir recht ist, wollen wir kein Wort sprechen über mein letztes Erlebnis! Es soll für mich begraben sein, vom Augenblick ab, wo ich Europa verlasse. Damit Dir aber in demselben nichts verborgen bleibe und damit Dir auch mein Seelenzustand ganz ohne Rückstand aufgehellt werde, will ich Dir alles ganz genau berichten.

In unser Regiment ist seit etwa einem halben Jahr ein Herr von Zeuthern eingetreten. Er ist ein tüchtiger junger Mensch, mit einer Neigung, leicht heftig, ja ausfallend zu werden, deren er sich wohl bewußt war, die er als Familienanlage bezeichnete und stets so wacker zu bekämpfen strebte, daß wir, wenn es ihn doch einmal hinriß, Nachsicht übten und seine Worte nicht wogen. In unserm Regiment herrscht ein wahrhaft brüderlicher Geist, ich schrieb Dir schon oft davon. Jedes neu eintretende Element wird zunächst als Störung empfunden, aber das Bestreben ist allgemein, es zu assimilieren. Bald hatte Zeuthern sich denn auch eingelebt, vielmehr er war eingelebt worden! Er hatte einen Bruder in Berlin, einen verheirateten Bruder mit zwei kleinen Kindern und einer Frau, die sehr schön sein soll. Dieser Bruder war Regierungsassessor gewesen. Aber er war nicht mehr im Dienst. Es hieß, er sei ein mißvergnügter Nobile, zu rechthaberisch, um sich seinen Vorgesetzten zu fügen, erbittert und gekränkt, weil der Staat seine Dienste entbehren wollte. Zeuthern führte niemand von den Kameraden dort ein. Wir waren zu diskret, nachzuforschen. Man brauchte auch noch nicht gerade Ungastlichkeit und Militärfeindlichkeit anzunehmen. Die Gründe schienen doch auf der Hand zu liegen: jemand, dessen einziger Lebensinhalt es ist, auf die Regierung zu schimpfen, lädt sich dazu nicht gerade Offiziere als Zeugen ein.

Doch hatten einige von uns den älteren Zeuthern flüchtig kennengelernt. Es kam wohl vor, daß er seinen in der Kaserne wohnenden Bruder besuchte und mit ihm abends einige Augenblicke im Kasino erschien. Alle Kameraden waren darin einig, daß der Regierungsassessor keine besonders gewinnende Persönlichkeit sei. Trotzdem kam ein Tag, wo wir ihn als Gast an unserer Tafel im Kasino hatten.

Der junge Zeuthern hatte seinen Geburtstag, der nach Regimentssitte hoch gefeiert wurde, zumal es der erste Geburtstag war, den er in unserm Kreise beging.

Das Geburtstagskind pflegt an solchem Tag bei Tisch neben dem anwesenden Rangältesten zu sitzen, also neben unserm noch immer unverheirateten Hauptmann von Steineck.

Das ist sonst, als ältestem Premier, mein Platz. Weil nun die beiden Zeutherns eingeschoben wurden, saß ich Ellbogen an Ellbogen mit dem Assessor.

Wir tranken scharf. Mein Gott, das ist nun einmal so. Der Deutsche kann nicht anders, scheint’s. Zur Festlichkeit gehört eben immer ein bedeutender Konsum von alkoholischer Flüssigkeit. Zumal bei Soldaten. Wir wurden etwas zwanglos. Doch nicht so, daß von Trunkenheit oder Sinnlosigkeit die Rede sein konnte. Ich hatte mit einem gewissen Vorsatz meine Unterhaltung mit Zeuthern in sehr wohltemperierter Art belassen, über alle Dinge nur so hinspielend, ganz konventionell und doch sehr beflissen, keine Pause eintreten zu lassen. Wir nennen das jemand ‚ansohlen‘. Zeuthern schien denselben Vorsatz zu haben, an der Oberfläche zu bleiben. Aber seine Vorsätze ertranken allmählich in Heidsieck. Er wurde aggressiv. Die natürlich einseitig gefärbte Darstellung seiner Verabschiedung hörte ich mit schicklicher Teilnahme an, ohne dies und jenes Wort gegen den Landesherrn, das ich anderswo schon nicht hätte dulden dürfen, scheinbar zu beachten. Zeuthern war unser Gast. Wollte er darauf keine Rücksicht nehmen, mußten wir es, so lange es ging. Aber der Augenblick kam, wo es nicht mehr ging.

Zeuthern wurde laut. Die Umsitzenden, allen voran der vor Schreck schon völlig ernüchterte und erblaßte Bruder, wurden aufmerksam. Steineck flüsterte dem Lieutenant zu, lieber den Bruder auf schickliche Weise hinauszuführen.

Der Assessor stieß die leise mahnende Hand des Bruders zurück.

Nie werde ich das Bild vergessen:

Der ganze Raum, lang und schmal wie er ist, war von blauem Dunst erfüllt, in wagerechten Lagen ruhte darin der dicke, weißliche Cigarrendampf. Die Flammen der beiden Gaskronen schienen trübe zu brennen, wie fünf rötliche Monde hingen die Glaskuppeln über der Tafel, oben und unten. Auf dem weißen Tischtuch herrschte eine wüste Unordnung, zerknüllte Servietten lagen zwischen Gläsergruppen, Aschbecher standen daneben. Herr von Löhner hatte die Fruchtschale an sich herangezogen, hinter den drei Etagen derselben sah man immer Teile seines Gesichts in lächerlichen Abschnitten. Er suchte sich Mandeln zwischen den Apfelsinen heraus und knackte sie auf. Und all die andern Gesichter waren uns zugewandt, mit aufmerksamem, unbehaglichem Ausdruck auf den roten, erhitzten Zügen. Steineck spielte mit nervösen Fingern Klavier auf der Tischkante; der junge Zeuthern zerrte seinen Bruder am Arm.

Und das häßliche, von Triumph und Schadenfreude vollends entstellte Gesicht des keifenden Mannes sah ich dicht vor mir.

‚Sie sind Offizier, Herr‘ schrie er mich an, ‚das heißt, Sie sind von Berufs wegen ein mundtoter Mann. Sie haben keine Meinung, kein Urteil – nicht mal Gedanken. Still haben sie zu sein. Immer bloß stille! Was wollen Sie mir sagen: ich ginge zu weit? Sie? Haben Sie Ansichten? Haben Sie Kritik? Sie können mir leid thun! Wenn der Kaiser sagt, dies Tischtuch ist schwarz, ist es für Sie schwarz, und wenn er sagt, es ist blau, na da ist es eben für Sie blau?‘

Der junge Zeuthern sprang auf.

‚Hören Sie ihn nicht! Ich flehe Sie an. Komm, komm – du hast zu viel getrunken,‘ rief er außer sich.

‚Nein,‘ sagte ich so laut ich konnte und auch so ruhig ich konnte, ‚ich höre ihn nicht. Sonst müßte ich ihm sagen, daß der Kaiser sein Heer nicht von Marionetten, sondern von denkenden Männern ausbilden läßt. Sie haben recht, lieber Zeuthern, Ihr Bruder hat vielleicht etwas zu viel getrunken, es ist besser, Sie veranlassen ihn, sich zurückzuziehen.‘

Der unselige Mensch riß sich mit Gewalt aus seines Bruders ihn thürwärts zwingenden Armen. Er trat dicht an mich heran, so dicht, daß ich seinen Atem voll Weindunst widrig spürte.

‚Betrunken soll ich sein,‘ schrie er, ‚weil ich nicht auf den Knieen rutsche vor Euren Götzenbildern? Weil ich in meiner Sache meine Meinung habe? Elende Byzantiner seid ihr alle, wie es ja auch nicht anders sein kann ...‘ Und nun folgte eine Beleidigung des ehrwürdigen greisen Fürsten, der uns das Reich gegründet, die ich auch jetzt nicht wiederholen mag.

Ein ungeheurer Lärm entstand. ‚Und Sie sind ein dummer Junge,‘ fuhr der Rasende fort, sie alle überschreiend, ‚der nichts versteht, als seine Soldaten mißhandeln.‘

Ich stieß ihn zurück, mit harter Faust, blind vor Zorn.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0264.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2020)