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verschiedene: Die Gartenlaube (1899)

so gut wie unsere Vorfahren imstande sein, ohne Taschenuhr und Kompaß sich nach dem himmlischen Zifferblatt in Zeit und Raum zurechtzufinden.

Wer von seiner italienischen Reise einen Lebensgewinn nach Hause bringen will, der für manchen wertvoller sein dürfte als das gewissenhafte Abgrasen der Galerien und Kirchen, der versäume nicht, wenigstens eine kleine Sternkarte mit sich zu führen und stelle sich damit des Abends auf eine Terrasse oder Anhöhe, etwa auf den Piazzale Michelangelo. In diesen ersten Frühjahrsmonaten ist eine hocherlauchte Gesellschaft am Himmel beisammen. Hoch im Zenit leuchten die Zwillinge, die den Frühlingsreigen anführen, westlich und schon etwas vornüber geneigt steht die Riesengestalt des Orion mit dem funkelnden Gürtel, vor ihm her wandern die Gruppen der Plejaden und Hyaden, ihm nach der strahlende Sirius, „der herrlichste von allen“, und ganz tief unten am östlichen Horizonte steigt Arkturus mit der Schar der Sommergestirne herauf.

Wer so glücklich ist, sich einigen Kindersinn bewahrt zu haben, dem wird es auch Freude machen, den Bildern, nach denen eine naivere Menschheit die Sterngruppen benannt hat, mit der Phantasie nachzugehen; nur darf er dabei keinen Anspruch auf korrekte Zeichnung erheben.

Hat man einmal diese Beobachtungen eine gewisse Zeit lang jeden Abend zur gleichen Stunde wiederholt, so wird man bald nicht nur die verschiedenen Konstellationen unterscheiden, sondern auch an ihrem jeweiligen Stand die Stunde bestimmen lernen. Die in Italien gefundenen Sternbilder wird man alsdann auch an dem trüberen deutschen Himmel immer wieder erkennen. Allmählich werden sie zu Freunden, man freut sich bei einsamen Feldspaziergängen, wenn die bekannten Gestalten uns begleiten, man weiß die Jahreszeit und die Stunde ihres Erscheinens voraus und wartet auf ihre Wiederkehr wie auf die alter Freunde. Für Menschen, die dauernd auf dem Lande leben, und gar für solche, die von Natur einsam sind, können sie eine unschätzbare Gesellschaft sein.

Doch nicht die glühenden Himmelsaugen allein geben der südlichen Nacht einen so eigentümlichen Zauber, sie hat auch eine Stimme, die sie als beseelt erscheinen läßt. Ein heimliches Singen und Tönen zieht über die Felder und steigt aus den Gärten empor: es ist das Summen und Zirpen von Millionen Insekten mit dem fernen Quaken der Frosche, was sich zu einem langgezogenen, seltsam elementaren Laut vereinigt, der etwas unendlich Friedvolles und Beruhigendes hat. Durch keine wohlthuendere Musik kann man in Schlaf gesungen werden als durch diese. Das Kiuh, eine ganz kleine, nur im Süden heimische Eulenart, läßt seinen melodischen Klageruf ertönen, der sich in kurzen, immer gleichen Pausen wiederholt, feierlich, gesetzmäßig, unabweislich wie die Notwendigkeit. Erst gegen Morgen verstummt er, kurz bevor die Tagesvögel durch ein rasches helles Zwitschersignal den Sonnenaufgang ankündigen.

Der Reisende glaubt die Umgegend von Florenz zu kennen, wenn er in solchen Blütentagen bis Fiesole oder nach der Certosa gefahren ist, aber in Wahrheit geben diese Eindrücke von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Florentiner Landschaft gar keinen Begriff. Schon in nächster Nähe dieser viel begangenen Wege thun sich Gegenden von völlig anderem Charakter auf.

Seitlich von Fiesole verwandelt sich der Zaubergarten in eine steinige Wildnis, wo nur verkrüppelte Cypressen und würzige Myrten sprossen, dort liegen die märchenhaften Steinbrüche des Monte Ceceri. Südlich von der Certosa, an den steilen Ufern der Greve, findet man wiederum eine von ihrer Umgebung völlig verschiedene Welt. Die hochgeschwungene Brücke, die über das Wasser führt, heißt Ponte agli scopeti, von scopa, Heidekraut, denn auf weiten Strecken steht am Ufer die mannshohe Heide, die sich zur Blütezeit mit einer Unzahl winziger weißer Glöckchen bedeckt. Neben ihr blüht der Ginster, der Pfriemenstrauch und andere gelbe Papilionaceen, die berauschende Düfte spenden. Selbst im Winter kommt man von dort nicht mit leeren Händen nach Hause, denn alsdann blüht die zarte lichtgrüne Weihnachtsrose, die unser Mörike besungen hat, dort zu Tausenden an den schattigen Abhängen.

Im April oder Mai sollte man den Monte Morello, den höchsten Berg in der Nähe der Stadt, besteigen, dann sind seine rötlichen sonnbeschienenen Halden – für den Rest des Jahres nur eine Steinwüste – in einen lachenden Rosengarten verwandelt.

Dagegen ist der östlich von der Stadt gelegene Monte Incontro auf seinem Nordabhang bis zur Spitze vollkommen lichtblau gefärbt durch die Kultur der blauen Schwertlilie (Iris florentina), die den schattenlosen dürren Boden viele Meilen weit bedeckt. Sie liefert das weltberühmte Veilchenpulver, das aus der Iriswurzel gewonnen wird und von der Apotheke von Santa Maria Novella aus als edelstes Wäscheparfüm über die ganze Erde wandert.

Die königlichen Schlösser Castello, Petraja, die alte Mediceervilla Poggio a Cajano muß man gleichfalls während der Rosenzeit besuchen. Mauern, Lauben, Dachvorsprünge sind dann von roten, weißen und gelben Rosen förmlich überschüttet. Auch die Gärten in und vor der Stadt, besonders die wunderbaren Anlagen des Boboli und des Bobolino, sind um diese Zeit ein Märchen. Die Citronen- und Orangenbäume brauchen die ganze Kraft ihrer starken Arme, um ihre goldene Last zu tragen, und daneben dauert die Blüte fort. Die gelbe Mispel reift, die labendste unter den Früchten des Frühjahrs. Bei den wilden Rosen stehen die Knospen in dicken Büscheln und sind nicht zu zählen, aber auch die edelsten Sorten wie Marschall Niel- und Dijonrosen kommen in besonders günstigen Rosenjahren so massenhaft, daß sie sich Raum und Licht streitig machen.

Dies ist der Frühling, wie ihn Botticelli in seiner „Primavera“[1] gemalt hat, und man muß solche florentinischen Blüten- und Zaubernächte erlebt haben, um die Märchenstimmung des wunderbaren Bildes ganz zu begreifen.

Der Zauber hat jetzt seinen Gipfel erreicht; neue Blumengeschlechter verdrängen die dahinsinkenden, und mit ihnen entwickelt sich auf dem unveränderlichen Hintergrund eine völlig neue Farbenskala. Zwischen dem reifenden Getreide bei Mohn und Kornblumen steht in Massen die hohe rote Gladiole, Adonisröschen glänzen wie kleine Blutstropfen hindurch, der wundersame schwellende Purpurklee macht den Eindruck, als seien brennend rote Plüschteppiche über die Felder hingebreitet. Der Kapernstrauch entfaltet seine Wunderblüte, an Spalieren rankt die „gaggia“, eine Mimosenart, deren kugelige gelbe Blüte der Florentiner Stutzer im Knopfloch trägt. Die verbreitetste Blume der Jahreszeit, die wilde Calla, steht überall an Mauern und Schutthaufen.

Der Frühling ist in dieser letzten Phase göttlich schön, aber erquickend ist er nicht mehr. Aus den Gärten strömt ein sinnverwirrender Wohlgeruch durch die weichliche Abendluft, gemischt aus Jasmin und Lilien, aus Linden- und Orangenblüten; von den Wiesen duftet das gemähte sonndurchtränkte Heu und die zarte aber berauschende Rebenblüte, die schon die Gewalt des künftigen Weines ahnen läßt. Die Leuchtkäfer führen ihren Fackeltanz in den Lüften auf, die Nachtigallen flöten und schmettern mit einer Inbrunst, als müßten sie ihre Seele in Tönen verhauchen. Nachtschwärmer durchziehen mit Gesang und Mandolinenbegleitung die Straßen; die Luft ist schwül und beklemmend.

Wer jetzt bei Einbruch der Dunkelheit über die Hügel geht, der sieht die Frühlingsgestirne im Untergang, Orion ist schon verschwunden – er wird erst im Spätsommer zu früher Morgenstunde am östlichen Himmel wieder sichtbar – die Zwillinge sinken ihm nach, während sommerliche Sternbilder den Zenit ersteigen.

Immer wilder, immer leidenschaftlicher wird das Blühen, der Rosenbusch kann sich nicht genug thun, der Oleander steht wie in Flammen, der Granatbaum schmückt sich mit korallenroten Rosen, die Magnolienblüte bricht auf und versendet einen Wohlgeruch, der Schwindel erregt. Alles, was an Lebenstrieben übrig ist, will sich schnell noch austoben, denn das Ende der ganzen Herrlichkeit ist nahe.

Eines Morgens ganz früh, wenn kaum die Vögel wach sind, ertönt ein schriller Laut in der Campagna, der in einen andauernden Lärm wie das Rasseln einer blechernen Kinderklapper übergeht – es ist die Cikade mit den durchsichtigen Flügeln, und ihre Stimme giebt das Signal, daß die Herrschaft des Sommers begonnen hat.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0258.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2020)
  1. In der Accademia delle belle arti befindlich.