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Brandenburg vom Jahre 1377, das Karl IV anfertigen ließ. Die Zahl der Höfe ist damals zwölf gewesen. Das Dorf gehörte nach wie vor dem Johanniterorden. Andauernde Grenzstreitigkeiten aber veranlaßten diesen, Rixdorf ebenso wie Marienfelde, Mariendorf und Tempelhof an die benachbarten Städte Berlin und Cölln zu verkaufen. Diese erwarben die vier Orte zu gemeinsamem Eigentum laut Kaufkontrakt vom 23. September 1435 und zahlten als Kaufgeld 2439 Schock und 40 Groschen Böhmischen Geldes. Da das Schock ungefähr gleich 90 Mark heutiger Währung ist, so war das für damalige Verhältnisse eine anständige Summe. Der Orden war dafür auch in der Lage, Schloß und Stadt Schwiebus zu erwerben. Bemerkenswert ist der Kaufvertrag von 1435 besonders dadurch, daß hier zum erstenmal eine Rixdorfer Kirche erwähnt wird. 1366 heißt es noch ausdrücklich, daß die Bauern zur Tempelhofer Kirche gehörten. Es ist kein Grund vorhanden, in der noch heute benutzten Kirche im Winkel des Richardsplatzes diese älteste Kirche nicht zu erblicken. Ihrer ganzen Grundform nach entspricht sie durchaus der Bauart der andern alten märkischen Kirchen. 1639 in der Schwedenzeit sind Turm und Dachstuhl abgebrannt und später erneuert worden.

Da Cölln und Berlin sich auf die Dauer über das gemeinsame Gut nicht zu einigen vermochten, ging Rixdorf am 24. August 1543 durch Vergleich in den alleinigen Besitz Cöllns über. Die Geschichte der Mark ist nun weiterhin auch die des Dorfes. Es wurde evangelisch wie das übrige norddeutsche Land, es litt unter den entsetzlichen Beschwerden des Dreißigjährigen Krieges, Kaiserliche wie Schweden suchten es gleicherweise heim. Aber auch Zeiten der Lebenslust kamen wieder. Wenigstens scheint es den Bauern nicht schlecht gegangen zu sein, wenn man den Berichten des Pfarrers von Einem Glauben schenkt, der am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts berichtet: „Das Saufen, Schlagen, Spielen hat fast alle Tage im Schulzengericht gewohnet“ und weiter: „Dieses Jahr habe ich sechs Bauersleute, die sich in Richsdorf beim Spielen und Saufen geschlagen, versöhnt und haben Besserung zugesagt, aber nicht gehalten. Ein Bauer hat selbst in der Kirche Tobackspfeife und Toback hervorgeholt. Er ist aber nichts gestraft worden. – Weil die Bauern in Richsdorf so große Kohlgärten als halbe Hufen Landes haben, so müssen sie’s dem Prediger, ein jeder Bauer und Cossäthe jährlich eine Dracht Kohl geben. Von den ganzen Damstücken geben sie dem Prediger auch Nichts.“ Danach scheinen die damaligen Rixdorfer gerade keine Tugendspiegel gewesen zu sein.

Die Schreibung des Dorfnamens ist in den Urkunden sehr verschieden: Reichsdorf, Richsdorf, Rechsdorf und andere kommen vor. Die etymologische Erklärung ist strittig. Da 1360 Richarsdorp geschrieben wurde, so nehmen die meisten an, es handle sich um ein „Dorf des Richard“, wobei nun freilich zwischen dem deutschen König Richard, Grafen von Cornwallis und Poitou, Richard Löwenherz und Richard dem Heiligen hin und her geraten wird. Auch ein Ordensmeister oder Komtur Richard könnte Pate gewesen sein. Nicolai in seiner Beschreibung Berlins behauptet, der Name ginge auf das alte Berliner Geschlecht der Ryken (Reichen) zurück. Eine Erklärung des Wortes aus dem Slavischen lehnt die neuere Forschung ab.

Höchst bemerkenswert für die Entwicklung des Ortes war das Jahr 1737. Damals siedelte König Friedrich Wilhelm I 18 böhmische Familien, die ihrer Religion wegen aus ihrem Vaterlande vertrieben worden waren und in Berlin kein Unterkommen mehr gefunden hatten, in Rixdorf an. So entstand neben dem alten Richarsdorp, das von nun an Deutsch-Rixdorf hieß, ein Böhmisch-Rixdorf. Dies wurde eine Sammelstelle der Böhmisch-mährischen Brüdergemeinde. Schon 1748 hat es an 300 Einwohner gehabt.

Die Franzosenzeit kam und die Befreiungskriege. Bei Großbeeren fochten Rixdorfer Jungen mit. Die Aufhebung der bäuerlichen Leibeigenschaft hatte auch für Rixdorf ihre Bedeutung. Der Ort wuchs empor. Größer und größer wurde die Zahl der aus Berlin zugezogenen Büdner, denen man schließlich nach langen Kämpfen eine Vertretung in der Gemeinde geben mußte. Auch äußerlich veränderte sich der Ort gründlich. Große Schadenfeuer in den Jahren 1803, 1827 und 1849 waren ein zwingender Grund, fast alles neu zu bauen. Schöne massive Häuser entstanden und mehr und mehr zogen Berliner heraus, die hier billiger wohnten als in der großen Stadt. Schon längst war die Teilung des Ortes in einen deutschen und einen böhmischen Teil nicht mehr zeitgemäß. Die Böhmen widersetzten sich aber einer Vereinigung, weil sie sich von einer solchen keinen Vorteil versprachen. Selbst das 1860 großartig gefeierte fünfhundertjährige Jubiläum schaffte keinen Wandel. Erst als im Jahre 1871 Gemeindevertretungen eingerichtet worden waren, kam man zum gewünschten Ziel. Durch königlichen Erlaß vom 11. Juli 1873 wurde die Vereinigung der beiden Dörfer ausgesprochen.

Nun war der Weg zu neuer, gesegneter Entwicklung eröffnet. Im rechten Augenblick, denn die Zeit des großen Aufschwungs begann. Und glücklich traf es sich, daß die große Zeit den richtigen Mann fand. Der erste Gemeindevorsteher von Rixdorf ist auch sein Reformator und zuguterletzt sein erster Bürgermeister geworden: Hermann Boddin, ein geborener Märker, leitet heute die Stadt, wie er seit 1874 das Dorf geleitet hat. Man hört nur dankbare Anerkennung für das Große, das seine reiche Arbeitskraft für die Stadt geleistet hat. Es war nicht leicht, mit der Entwicklung, die plötzlich ein fieberisch hastiges Tempo annahm, gleichen Schritt zu halten. Schon die erstaunliche Zunahme der Bevölkerung zeigt, welche Schwierigkeiten zu überwinden waren. 1875 zählte der Ort 15 328 Einwohner, 1885 schon 22 785, 1895 jedoch 59 937 und 1899 gar über 80 000. Man fing allmählich an, die Straßen ordnungsgemäß zu pflastern, eine bessere Beleuchtung wurde angelegt. Neue Schulen mußten gebaut werden, ferner eine Gasanstalt und ein Spritzenhaus. 1878 konnte man sich sogar schon eine eigene Gewerbe- und Industrieausstellung gestatten. Die Kanalisieruug des Ortes mittels Rieselwiesen wurde durch Erwerb des Gutes Waßmannsdorf ermöglicht. Eine Pumpstation wurde angelegt, ein Kranken- und ein Armenhaus gebaut.

Heute besitzt Rixdorf 80 ordentliche Straßen, darin 16 Schulhäuser, in denen 175 Lehrkräfte wirken. Im Dienste der Stadt sind bis auf weiteres 180 Verwaltungsbeamte angestellt. Die Stadt besitzt eine eigene Sparkasse und drei Kirchengebäude. Die Post unterhält drei Postämter. Fünf Aerzte sind im Armenpflegewesen angestellt. Es besteht eine Ortskrankenkasse und ein öffentlicher Arbeitsnachweis, ferner eine Fortbildungsschule, eine höhere Knabenschule und zwei höhere Töchterschulen. Auch giebt es eine Volksbibliothek, ein naturhistorisches Schulmuseum und eine freiwillige Sanitätskolonne. Die Presse ist vertreten durch das „Rixdorfer Tageblatt“ und die „Rixdorfer Zeitung“. Das Innungs- und Vereinsleben ist äußerst rege. Es giebt eine Bäcker-, Barbier-, Friseur- und Perückenmacher-, eine Müller-, Schlächter-, Schmiede- und Schlosser-, Tischler- und Weber- und Wirkerinnung. Man zählt 130 Vereine, nämlich 10 religiöse, 5 gemeinnützige, 4 kommunale, 3 politische, 6 gewerbliche Ortsvereine, 3 Turnvereine, 2 Handwerker-, 9 Krieger-, 19 Musik- und Gesang-, sowie 4 Theatervereine. Ferner 17 Sport-, 4 Züchter-, 4 Lotterie-, 8 Vergnügungsvereine, 5 Skat-, 5 Rauch- und Kegel- und 22 verschiedene andere Vereine. Man sieht, die Lebenslust der Rixdorfer Bauern ist im Lande noch nicht ausgestorben. Aber dafür wird auch gearbeitet: 4000 Gewerbebetriebe sind in der Stadt, darunter 1700 zur Gewerbesteuer veranlagte. Jüngst zählte man 72 größere industrielle Etablissements. An Verkehrsverbindungen mit Berlin sind vorhanden die verschiedenen Linien der Straßenbahn, eine Omnibuslinie und der Südring der Stadtbahn, der in Rixdorf zwei Bahnhöfe hat.

Wer mehr von Preußens jüngster Stadt wissen will, findet noch manche interessante Einzelheit in dem empfehlenswerten Buche von Eugen Brode, „Geschichte Rixdorfs“, 1899. Wir sind am Ende unserer Wanderung. Am Rollkrug haben wir das Gebiet des alten Richarsdorp betreten, am Bahnhof verlassen wir es wieder. Wir haben gesehen, wie aus Kindern Leute werden. Aus dem kleinen Johanniterhof ist die stolze Stadt erwachsen. Vielleicht geht der fromme Wunsch der Rixdorfer doch noch in Erfüllung, daß es einmal heißt: „Berlin bei Rixdorf“. Wie singt doch der Sänger des Orts? –

„Uff den Festdag frei ick mir!“




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1899). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1899, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1899)_0247.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)